(a spontaneous look in twenty-eight cardboard boxes)
Bild entfernt (keine Rechte)
Murmeltiertag, weit weg von Punxsutawney, irgendwo im beschaulichen Duisburg-Marxloh.
Während Anna ihren Säure-Basen-Ausgleich therapiert nutze ich den günstigen Augenblick um mich im WG angrenzenden Abstellraum in Ruhe den inzwischen auf achtundzwanzig Pappkartons angewachsenden (WG O-Ton) "nutzlosen Gerümpelberg" zu widmen.
Angesammelt haben sich hier eine für heutige Verhältnisse fast vergessene analoge Magnetband-Aufzeichnungstechnologie. Ein ungeordneter Wertstoffpulk wundersamer Bezeichnungen auf Basis Chromdioxid oder Ferrochrom mit Namen "Musik-Compact-Cassette".
Musikcassetten bunt gemischt von jedem erdenklichen Hersteller mit Bandlaufzeiten von 60, 90 und 120 Minuten.
Handschriftlich mit mehr oder weniger sinnvollen Beschriftungen auf dem Plastikgehäuse provisorisch in einer stapelfähigen Schutzhülle verstaut.
Mixtapes für jeden Anlass, Sicherungskopien von vermeintlichen "Killer-Playlists" die sich auf diversen Locations bewährt haben. Impulsive Mitschnitte von diversen Bandproben, völlig planlose Livemitschnitte von Clubgigs oder Geräusche/Gesprächsfetzen aus dem Backstagebereich (real nerd shit und ein bis heute unerschöpfliches Eldorado zum basteln von sample loops).
Aufnahmequalität, wie sollte es auch anders sein, von historisch bis highend. Um es blumig in gepflegtem denglisch Umgangston zu formulieren: Bandrauschen was my first love and who the mukkefukk is Mr. Dolby. Aber auch rare 1:1 Überspielungen von Revox Mastertapes, 38 Zentimeter pro Sekunde, mit einer gefühlten Hördynamik zum nieder knien, tauchten hier wieder auf.
Das Abhören von Musikcassetten empfinde ich nach all den Jahren als die Königsdisziplien an gelebter analoger Hörkultur. Speziell die Wartezonen zum herantasten an den nächsten Titel, klick forward stop, klick backward stop, lassen einen in einen mediativen Flow abgleiten.
Erste positive Erkenntnis dieser spontanen Aktion, die Zeit verliert an Höhe, innere Ruhe und Entschleunigung vom Alltag setzt nach und nach ein.
Nur gelegentlich unterbrochen von der Schattenseite dieser Technologie. Der ungesüsste Bandsalat! Heute im Streamingwahnsinn eher bekannt unter "scheisse alter, kein Netz und kein Akku". Damals ähnlich gelagert auf dem Niveau ernstzunehmender Störfall auf allen emotionalen Ebenen.
Leichte Fälle konnten dann durch das mühselige Einfädeln des Bandes mit dem bereitliegenden Bleistift abgestellt werden. Schwieriger wurde es eine gerissene Bandstelle so zu verkleben das nur ein minimaler dropout akustisch hörbar zurück blieb. Trotz Einsatz raffinierter Hilfsmittel wie Rasierklinge, Vergrösserungsglas und selbst angerührter Klebe-Tinktur war hier in den meisten Fällen der Totalverlust der Cassette mit anschliessener Beisetzung im nächsten Mülleimer zu beklagen.
Danach das obligatorische Trauerbierchen und in einer Nachtschicht nochmals neu aufnehmen oder kopieren tape to tape um die bereits zugesagten Partytermine am Wochenende nicht zu gefährden.
Was für verrückte zeitintensive analoge Zeiten.
Um den WG-Frieden nicht weiter zu strapazieren warnen wir Anna lieber mal vor das eine gründliche Vor- und Hörsichtung voraussichtlich doch etwas länger dauern wird.
Gesagt getan, rund zehn Tage später ist das selbstauferlegte Cassettencasting zu meiner Zufriedenheit abgeschlossen.
Ich liege voll im Zeitplan um die getroffene Cassettenauswahl bei einer bereits länger geplanten Städtetour mit dem Zug (Marxloh, Basel zurück über Hannover bis Hamburg-Altona und retour) auf eine überschaubare Liste von möglichen Lieblingssongs einzugrenzen.
Auf die "Giftschrankabteilung" mit sehr spezieller frei improvisierter Musik und eher atonalem Charakter habe ich bewusst verzichtet. Brötzmann, Rüsenberg, Bailey, Lippegaus u.a. mögen mir bitte verzeihen ihr wart hier noch nicht im Visier meiner derzeitigen Hörvisionen.
Also Kopfhörer raus, mobiles Tapedeck entstaubt, ausreichend Ersatzbatterien besorgt, Kassettenauswahl in den Rucksack und los in die eigene Vergangenheit.
Da bin ich selbst gespannt was im Mai 2019 einen noch berührt, vielleicht emotional noch überrascht oder im besten Sinne vielleicht neu begeistert. Die Grundidee von dieser speziellen Auswahl ist liebevoller Verzicht.
Und hier ist sie nun die Liste von zehn Lieblingssongs aus dem DdR-Cassettenarchiv.
Aufgelockert mit einigen kleinen eingestreuten Kommentaren.
Hinweis: Um die Geduld für mögliche Ladezeiten überschaubar zu halten bekommt jeder Song einen separaten Eintrag.
10. Ryuichi Sakamoto - Moving On (1994 aus dem Album "Sweet Revenge")
Der perfekte Song zum Start in Basel. Bezaubernd wie mich die Stimme von J-Me umgarnt. Was Mr. Sakamoto hier in seiner stilübergreifenden Klang- und Kompositionswerkstatt erschaffen hat ist wirklich beeindruckend und im besten Sinn zeitlos. Das Album "Sweet Revenge" gehört zum dritten Abschnitt meiner bevorzugten Poptrilogie zwischen den Schaffensjahren 1989 und 1994. Die Alben "Beauty", "Heartbeat" und "Sweet Revenge" sind Perlen für jeden Musikliebhaber und zusätzlich auch ein ernsthafter Lehrstoff für ambitionierte Komponisten und Sounddesigner.
09. John Lee Hooker & Miles Davis - Bank Robbery (1990 aus dem Film Soundtrack Album "The Hot Spot")
Obwohl die Credits für die offizielle Filmmusik Jack Nitzsche zugeordnet werden hat Dennis Hopper hier ein Gipfeltreffen von Musikern gewinnen können das bis heute einen einzigartigen Klangkosmos hinterlassen hat. John Lee Hooker, Miles Davis, Taj Mahal und Roy Rogers zaubern dieser im Filmscript verschlafenen Kleinstadt in Texas ein ungeheures Flair und neue klangliche Dynamik ein.
Wäre dieser Film ohne Dialoge nur mit diesem Soundtrack in die Kinos gekommen hätte das Genregrenzen (ähnlich wie bei Philip Glass für "Koyaanisqatsi") gesprengt.
08. Mike Herting - Amazonas Burning (1990 aus dem Album "Wem gehört Brasilien" | "Who Owns Brasil")
Ich nenne ihn liebevoll den Quincy Jones vom linken Rheinufer. Ein Junge aus Wesseling der als Dirigent, Arrangeur und Komponist für die WDR Big Band in Köln tolle Crossover-Projekte realisieren durfte. Hier mit einem konventionellen Popsong aus der Frühphase seiner musikalischen Aktivitäten. Textlich beseelt mit einer bis heute gültigen bitteren Wahrheit und viel zu häufig verdrängten globalen Botschaft (vor fast 30 Jahren hätte ich noch das leichtsinnige Wort "Warnung" benutzt).
07. Danielle Brisebois - Everything My Heart Desires (1997 aus dem Film Soundtrack Album "As Good as It Gets" und später aus dem Album "Portable Life")
Kein Witz, diesen Song habe ich auf einer mehrmals überspielten Benjamin Blümchen Cassette wieder gefunden. Während Jack Nicholsen in einem Diner, nach einer abfälligen Bemerkung über ihr rotes Kleid, Helen Hunt das vielleicht charmanteste Kompliment der Filmgeschichte macht, werden zwei Songs von Danielle Brisebois als (völlig überflüssiger) Stimmungsaufheller dem ewigen Popaltar zum Frass vorgeworfen. Mit Platz sieben ist die Ehre dieser vielseitigen Musikerin hoffentlich wieder hergestellt.
06. Coldcut - Pearls Before Swine (1993 aus dem Album "Philosophy")
Ein Schleicher von Gottesgnaden. Die von Mitt Gamon gespielte Mundharmonika, das wiederkehrende Atmo-Sample und der Gesang von Janis Alexander. Die Dreifaltigkeit, unauflösbar für den ewigen Popsonghimmel. Mehr geht einfach nicht.
05. Tom Robinson Band - (Sing If You're) Glad to Be Gay (1978 auf der EP "Rising Free")
Polizeigewalt gegen Schwule und ein Song der das offen ausspricht wird von der BBC nicht gespielt. Befeuert mit einem Auftritt beim ersten Rock Against Racism Festival war die EP "Rising Free" der überfällige Konsenz unter Schwulen, Lesben und Punks für eine klare linke Grundhaltung.
Nie war mir das Innenleben der Inselbewohner und ihre Zerrissenheit näher.
Dagegen sind literarisch gekrönte Nobelbeiträge nur eine bedauernswerte Darmblähung im Wind der Zeit.
Tom Robinson Band - (Sing If You're) Glad to Be Gay
03. Susan Weinert - Regentag (2002 aus dem Album "Synergy")
Mein Schlaflied ohne opulente Streicherkaskaden und ein Glücksfall für sechs Minuten nicht über bedeutungsschwangere Textzeilen nachdenken zu müssen. Mein unverfilmtes Drehbuch für einen schönen Traum ohne bitteres Ende. Vermiss ich etwas nach dieser grossartigen Musik? Ja, die Stille im Kopf!
02. Liga Agil - Grelle Modelle (80-ziger Jahre, Bootlegs auf diversen Cassetten und meiner Gehirnrinde)
Die in dem verlinkten Video mitgeschnittene Liveversion kommt dieser heimlichen Hagen-Hymne nicht wirklich nahe.
Der hier angebotene "Knüppel-aus-dem-Sack" Schlagzeugbeat fehlt jegliche Leichtigkeit der ursprünglich als New-Wave-Reggae Rhythmus (erinnert sei an dieser Stelle an Guido "Rabe" Eikelmann) angelegten Songstruktur.
Aber das Wortpalindrom zählt und bleibt ein echtes Unikat.
01. Nicolle Meyer - Nowhere bei mir (1983) | Blumfeld - Nowhere bei mir (2001)
Das Original und die Coverversion gleichberechtigt auf dem Thron meiner Lieblingssongs. Was alles passieren kann wenn eine völlig unbekannte Schlagzeugerin der Fred Banana Combo für Ariola eine Single aufnimmt und Jahre später auf der Rückseite einer Maxi für ewige Zeiten von Jochen Distelmeyer geadelt wird. Das ist wahre Poesie, Liebe und analoge Glückseligkeit.
Zitat von DucdeRichelieu im Beitrag #903. Susan Weinert - Regentag (2002 aus dem Album "Synergy")
Mein Schlaflied ohne opulente Streicherkaskaden und ein Glücksfall für sechs Minuten nicht über bedeutungsschwangere Textzeilen nachdenken zu müssen. Mein unverfilmtes Drehbuch für einen schönen Traum ohne bitteres Ende. Vermiss ich etwas nach dieser grossartigen Musik? Ja, die Stille im Kopf!
Susan Weinert - Regentag
Wunderbar! Gönne ich mir gerade. Eine Insel. Schön.
Hier gibt es von mir erst mal 12 Punkte für den besten Einleitungstext zum Thema. Hat mich sehr amüsiert, wie du den Unterschied zwischen analogem Cassette hören und Streamen beschrieben hast.
Und danke auch für Nicolle Meyer. Die Fred Banana Combo ist mir bekannt; dass deren Schlagzeugerin damals eine so wunderbare Single aufgenommen hat hingegen nicht.