Texte folgen im Laufe der Woche, aber hier kommt schonmal der Platzhalter. Für die zweite Runde habe ich mich bewusst auf Klassik beschränkt, wobei "beschränkt" für so ein weites Feld irreführend ist. Genretypisch sind auf den meisten Aufnahmen mehrere Werke, ich beschränke mich in Titel und Rezension auf das Werk, dessentwegen ich die Platte ausgesucht habe.
Tomas Luis de Victoria - Requiem (The Tallis Scholars) Zu Tomas Luis de Victorias "Requiem" kam ich als Atheist ohne Draht zur Renaissancekunst wie die Jungfrau zum Kinde. Und während sich Ersteres wohl nicht mehr ändern wird, hat sich Letzteres zumindest in Bezug auf Musik mittlerweile radikal gewandelt. "Schuld" daran ist in erster Linie Arvo Pärt, dessen Vokalmusik mich vor gut zehn Jahren absolut begeisterte und mir die Ohren öffnete für die klaren, langsamen, in ihrem Minimalismus stellenweise durchaus modern wirkenden Stimmflächen, die große Teile der geistlichen Chormusik der Renaissance ausmachen. Was genau mich auf Victoria stoßen ließ, ist mir nicht mehr erinnerlich, aber ich erinnere mich noch gut daran, wie ich eines Nachts plötzlich vor dem Rechner saß, Kopfhörer auf den Ohren, YouTube geöffnet und volkommen erstarrt. Die Schönheit - insbesondere des einleitenden "Requiem aeternam" - raubt mir noch heute den Atem. Und vermutlich bin ich auch einem religiösen Erlebnis nie näher gekommen als beim Hören dieser Musik, die in ihrer reinen Schönheit etwas Jenseitiges in sich birgt. In diesen sich langsam verschiebenden Harmonien könnte ich mich auflösen. Wenn ich mal abtrete, darf man sich zur musikalischen Untermalung gerne dieses Werkes entsinnen. Auch bei der Klassik gebührt das Lob selten nur the song, sondern eben auch the singer. In diesem Fall sind das die Tallis Scholars, die hier in doppelter sechsstimmiger Besetzung - man hört also nur zwölf Stimmen ohne jegliche Instrumentalbegleitung - so einen Klangraum aufmachen. Die Ensembles, die das auf diesem Niveau schaffen, kann man an einer Hand abzählen. Seit dieser Aufnahme sind mehrere (teilweise Blind-)Käufe von Tallis-Scholars-Aufnahmen gefolgt, und es war tatsächlich nicht ein einziger Ausfall dabei.
Johannes Brahms - Ein deutsches Requiem (Philharmonia Orchestra and Chorus, Klemperer) Brahms beeindruckt hier durch überwältigende Wucht, und das hat niemand so gut umgesetzt bekommen wie Klemperer 1961. Getragen, im richtigen Moment aber dadurch umso brachialer durchbrechend - bei "Denn alles Fleisch, es ist wie Gras" durchläuft mich zuverlässig eine Gänsehautwelle nach der anderen.
Giovanni Battista Pergolesi - Stabat Mater (Les Talens Lyriques, Rousset) Ein "Stabat mater" ist die Vertonung der Klage einer Mutter am Grabe des vor der Zeit verstorbenen Kindes - anhand des Sonderfalls Maria/Jesus. Entsprechend klagend ist Pergolesis Version der Geschichte ausgefallen, perfekt umgesetzt mit Bonney und Scholl (als Countertenor in der Alt-Rolle).
Andreas Scholl - English Folksongs & Lute Songs (Scholl, Martin) Der Klang eines guten Countertenors - eine Männerstimme im Frauenregister - ist mit nichts zu vergleichen, auch wenn die Wertungen oft weit auseinandergehen. Ich liebe es, und Andreas Scholl ist einer meiner liebsten. Hier minimalistisch mit Lautenbegleitung und englischem Liedgut. Dowland!
Claudio Monteverdi - Teatro d’Amore (L’Arpeggiata, Pluhar) Formal ähnliche Richtung, aber so swingend, tänzerisch, wie ich Monteverdi vorher (und nachher) nie gehört habe. Der Humor der Live-Videos verlangt zur vollen Genussentfaltung vermutlich eine seltene Kombination verschiedener Arten des Nerdtums, aber so zugänglich wie hier ist Alte Musik selten.
Frederic Chopin - Complete Waltzes (Ott) Komplette Aufnahmen der Chopin-Walzer gibt es überraschend wenige, diese ist so musikalisch, so tänzerisch, leicht an den richtigen Stellen, schwermütig und doch leichtfüßig (was für eine interpretatorische Leistung) an anderen. Man höre Track 19, die Frau hat mit 20 Perfektion erlangt.
Modest Mussorgsky - Pictures at an Exhibition (Pogorelich) Eine fantastische Idee - der Rundgang durch eine Ausstellung, mit Vertonung der jeweiligen Bilder - perfekt umgesetzt. Bearbeitungen gibt es vom Solo-Piano-Original über diverse Orchestrierungen bis zu E,L&P (genial!) viele, der stets unzuverlässige Ivo Pogorelich hat hier eine Sternstunde.
Jean Sibelius - Violin Concerto in D Minor, Op.47 (Chicago Symphony Orchestra, Hendl, Heifetz) Bei Sibelius höre ich immer die dunklen Weiten seiner finnischen Heimat durchklingen - und zu dem schwelgerischen Stil passen sowohl der holzige Klang des CSO als auch Heifetz' weit ausholender, dramatischer Geigenklang. Eine unerreichte Interpretation dieses spätromantischen Meisterwerks.
Giuseppe Verdi - La Traviata (Bayerisches Staatsorchester, Kleiber) Für Opern könnte ich eine eigene Liste machen, hier muss ein Vertreter reichen, und das ist das Werk, das mir die Ohren für diese musikalische Welt geöffnet hat. Zudem gibt es wenig italienischeres als Verdi-Opern, und "La Traviata" - zumal dirigiert von Carlos Kleiber - ist ein Höhepunkt des Genres.
Franz Schubert - Winterreise (Fischer-Dieskau, Demus) Den Abschluss macht diese völlig hoffnungslose, tieftraurige Bestandsaufnahme eines unsteten, zur Wanderschaft verdammten Lebens. Kurze Momente der Harmonie gibt es nur in der Rückschau (Lindenbaum) oder als Täuschung (Post). Und am Ende geht der alte Leiermann ins unendliche Nichts. Beklemmend.
"Happy Holidays... is what terrorists say. Merry Christmas, from Avery and Jack."
Oh, Klassik! Sehr schön. Ich Unwissender kenne sogar zwei oder drei Sachen, wenn auch nicht immer von diesen Interpreten. Ich bin gespannt auf die Texte.
http://www.last.fm/de/user/DerWaechter ehemaliger Influencer * Downtown * Radebrecht * "Die einzige Bevölkerungsgruppe, die man risikolos beleidigen kann, sind die Dummen. Da fühlt sich nie einer angegriffen." (Ronja von Rönne) “The sex and drugs have gone and now it’s just the rock ‘n’ roll” (Shaun Ryder)
So, die Kommentare sind komplett. Naturgemäß ist diese Liste nicht weniger lückenhaft als jede andere Zehnerliste auch, neben dem offensichtlichen Fehlen der drei wahrscheinlich bekanntesten Klassik-Komponisten Bach, Mozart und Beethoven ist zum Beispiel eine einzige Oper vollkommen unzureichend. Zudem kratzt nur ein Werk am 20. Jahrhundert, und das mit 1903/04 auch nur knapp, da fehl auch einiges. Mahler hätte ich zum Beispiel gerne mitgenommen, der Verzicht auf Schostakowitsch schmerzte, Philip Glass, György Ligeti, der erwähnte Arvo Pärt... Material für eine Fortsetzung wäre reichlich vorhanden, aber das ist ja in diesem Spiel auch nicht die Herausforderung.
"Happy Holidays... is what terrorists say. Merry Christmas, from Avery and Jack."
Ich finde es interessant zu lesen. Werde den Link zu dem Thread mal an meine Freundin schicken, die ist nämlich um einiges klassikaffiner als ich, und werde dann berichten, wie er ankam.
We don't believe in anything we dont stand for nothing. We got no "V" for victory cause we know things are tougher.
(Iggy Pop/James Williamson: "Beyond The Law")
---------------------------------------------------------------- From the river to shut the fuck up.
Das freut mich. "La Traviata" ist eine dankbare Einstiegsdroge, unglaublich melodisch, funktioniert auch als Hintergrundmusik zum Kochen gut. Wobei auch schon Leute über Korngold oder den Ring zur Oper gekommen sein sollen.
"Happy Holidays... is what terrorists say. Merry Christmas, from Avery and Jack."
Hm … deine Liste ist ein bisschen Therapie, @Berthold Heisterkamp, denn meine ehemalige Ehefrau spielt Klarinette.
Mit Brahms bin ich nie so richtig warm geworden, Chopin hört sich sehr interessant an, von den Bildern habe ich eigentlich genug, klassische Musik mit Gesang verbunden geht für mich überhaupt nicht, diesen Schubert kenne ich noch nicht.
Mit Chopin und vor allem Schubert muss ich mich wohl mal näher beschäftigen. Von Schubert kenne ich einiges, aber das Werk noch nicht.
Lieben Dank für die ungewöhnliche Inspiration!
PS. Schön, dass du Mahler ausgelassen hast. Ich mag klassische Musik, aber ich hasse Mahler.
Klarinette ist ein wunderschönes Instrument, das ich aber am liebsten außerhalb der Klassik höre. Hier zum Beispiel:
Probleme mit Gesang in der Klassik (wie sie ja auch gnathonemus zumindest in Bezug auf "La Traviata" zu haben scheint) kann ich natürlich verstehen, andererseits findet sich schon im bescheidenen Rahmen dieser Liste eine recht große Bandbreite. Was selbstverständlich nicht zu Gefallen führen muss, aber ein Reinhören vielleicht lohnender macht.
"Happy Holidays... is what terrorists say. Merry Christmas, from Avery and Jack."
Apropos Gesang, The Tallis Scholars finde ich wunderbar. Ich habe ein paar CDs angehört und bin begeistert. Mindestens die Palestrina-CD werde ich mir holen und das von dir genannte Requiem auch. Mein Einstieg in diese Welt war ja auch Arvo Pärt und das Hilliard Ensemble, aber in den letzen Jahren habe ich das komplett aus den Augen verloren.
http://www.last.fm/de/user/DerWaechter ehemaliger Influencer * Downtown * Radebrecht * "Die einzige Bevölkerungsgruppe, die man risikolos beleidigen kann, sind die Dummen. Da fühlt sich nie einer angegriffen." (Ronja von Rönne) “The sex and drugs have gone and now it’s just the rock ‘n’ roll” (Shaun Ryder)
Ich habe mir gerade Die Bilder einer Ausstellung aufgelegt. Gespielt vom Chicago Symphonie Orchestra unter der Leitung von Carlo Maria Giulini.
Hörst du da zu der von dir bevorzugten Ausgabe einen Unterschied?
Nachtrag: Und nein, ich will dich keinesfalls verarschen. Das ist eine total ernst gemeinte Frage!
Sorry, übersehen. Ja, ich höre einen Unterschied. In etwas so wie zwischen "Hurt" von Nine Inch Nails und der Version von Johnny Cash, insofern, dass mir beide gefallen, ich die deutlich spärlicher, aufs Wesentliche konzentrierte Variante aber jeweils vorziehe. Bei Mussorgsky ist das das Solo-Piano-Original, bei "Hurt" die Cash-Version.
"Happy Holidays... is what terrorists say. Merry Christmas, from Avery and Jack."
Zitat von King Bronkowitz im Beitrag #6"La Traviata" hatte bei ihr denselben Effekt, soll ich mitteilen. Ansonsten seien da recht tolle Sachen dabei.
Ich muß hinzufügen: ich werde mich in diesem Leben nicht mehr richtig eingehend mit Klassik beschäftigen. Dazu ist mir das Feld zu weit (beackere ja im Jazz schon ein Gebiet, bei dem selbst mit Feldstecher kaum ein Ende in Sicht ist) und die Beschäftigung mit den unterschiedlichen Versionen auf dem Papier meist zu trocken und öde. "Sie hören nun eine Einspielung des Wiener Symphonieorchesters aus dem Jahr 1972: Waldemar Barth dirigiert die Symphonie in g - moll von Hubertus Eisenstein, Opus 3, zweiter Satz, für Vibraphon, zwei Pauken und einen Gummihammer", bei derartigem schläft mir schon vor dem Hören das Gesicht ein. Ich habe gewaltigen Respekt vor Klassik; aber ich höre sie gerne im Vorübergehen. Eine Bekannte aus Karlsruhe, die äußerst liebenswürdige Anna Pelczer, hat sich zum Ziel gesetzt, die Klassik dem einfachen Volk zurückzubringen und spielt gerne in Restaurants und auf öffentlichen Plätzen. Dabei darf man sich sogar unterhalten; die Resonanz war bisher überwältigend. Scheinbar sind Leute eher gewillt, diese großartige Musik zu hören, wenn man ihr den Ruch des gestreng Elitären nimmt. Und Anna ist mitnichten eine Hobbygeigerin: