so, jetzt aber. irgendwann sicher auch noch mit schönen coverbildern:
Eine kleine Bemerkung vorab: Es geht um zehn Alben, die in mir etwas auslösen, sogar wenn ich in emotionaler Embryostellung im dunklen Zimmer liege und nicht mehr mag. Seltsamerweise sind das häufig geistliche Stücke, obwohl ich mit Religion so gar nichts am Hut habe. Bei klassischer Musik (als Überbegriff verwendet) unterscheiden sich verschiedene Aufnahmen desselben Stücks beträchtlich. In der Tat sind die Aufnahmen, die ich hier anspreche, gezielt ausgewählt. Dennoch will ich sie hier nicht gegeneinander abwägen, technische Details oder Finessen im Tempo ansprechen. Vielmehr sind es einfach die Alben, bei denen ich die Musikalität, um die es mir geht, am ehesten spüre. Bei anderen Hörer:innen mag das komplett anders sein und das ist völlig ok so. Am besten einfach ausprobieren.
1.Claudio Monteverdi – L’incoronazione di Poppea Irgendwie ist es dann auch etwas egal, worum es geht, aber in Kürze: Machtspiele, Intrigen, Liebeleien. Teilweise albern, teilweise philosophisch verstiegen, immer berührend. Monteverdi reduziert hier „to the max“, das ist nicht die Oper der großen Arien und brachialen Auftritte, hier passiert alles im Detail – vielleicht abgesehen vom Schluss, da gibt es das größte kleine Duett aller Zeiten und wer da nicht weint, hat beschissen. Besser als in dieser Oper kann nicht polyphon komponiert werden, man kann nicht aufhören, sich immer wieder auf die Suche nach neuen Melodien zu machen, die man bis zum gefühlt millionsten Durchgang überhört hatte, dabei schließt man gleichzeitig immer wieder Freundschaft mit denen, die man schon kennt. L’incoronazione di Poppea ist in Musik gegossener Trost, nicht etwa, weil das Libretto sich so sehr mit dem Thema beschäftigen würde, sondern weil die Musikalität wirklich im besten aller möglichen Sinne erhebend, ja, erhaben ist. Ich fühle mich von diesem Werk umarmt und in eine bessere Welt überführt; nicht die Welt, in der die Geschichte spielt, da sind weiterhin alle richtig beschissen zueinander. Nein, ich schwebe irgendwo über dem Ganzen und bade in dieser unfassbaren Musik. Es heißt, Monteverdi sei nicht ganz einfach zugänglich, zu ungewohnt seine Harmonien, zu spartanisch die Instrumentierung. Ich kann wirklich nur raten, dem Ganzen mehrere Chancen zu geben, es lohnt sich. Hier – und nur hier, weil es ja auch das hervorgehobene Album ist – zwei Versionen zum Vergleich, eine etwas schneller, eine beinahe meditativ, nach innen gekehrt. Beides ist richtig, beides berührt nicht zu knapp. Anspieltipp: Seneca erhält Nachricht seines bevorstehenden Todes. https://open.spotify.com/track/5ETi3dD10...1e18239726546d1 Anspieltipp zwei: Ottone bemitleided sich zum wiederholten Mal selbst. https://open.spotify.com/track/5ZaNnOGCs...850a2c86ae44f03
2.Dinu Lipatti – the last recital Ein bekanntes Konzert, das letzte des hier bereits todkranken Dinu Lipatti. Es geht nicht mehr alles, die Kräfte schwinden. Da geht auch mal ein Ton daneben, aber mehr Größe und Gefühl sind schwerlich in die hier gespielten Gassenhauer zu verpacken. Anspieltipp: Mozarts A-Moll-Sonate, zweiter Satz https://open.spotify.com/track/3H851jmHl...af94b7700054730
3.Johann Sebastian Bach – H-Moll Messe „Et in terra pax“, frommer Wunsch seit Jahrhunderten, hat leider nie wirklich etwas gebracht, aber wenn Bach es in seiner H-Moll-Messe schreibt, glaubt man für eine Minute, dass es mehr als ein Wunsch sein könnte. Man ist der Seligkeit auch schon weniger nah gekommen. Anspieltipp: Gloria, et in terra pax: https://open.spotify.com/track/3ULIwpCcE...a8c05bdfd354af2
4.Calmus Ensemble – Made in Leipzig A propos fromme Wünsche, der nach einem behüteten Schlaf ist ebenfalls ein alter, oft getätigter, leider selten genug erfüllter. Hier geschehen harmonisch wilde Dinge, die sich immer wieder so wunderbar auflösen, dass es weh tut. Anspieltipp: Max Reger, Nachtlied: https://open.spotify.com/track/5HrzUiIAJ...41336c752194c5e
5.Frank Martin – Messe für Doppelchor Ein Chor wie ein verstimmtes Akkordeon, ein anderer unisono darüber, braucht nur noch eine Prise von Frank Martins zauberhafter Intuition für Akkordaufbau. Es scheint so simpel, warum es doch nur ganz wenige können, bleibt ein Rätsel. Anspieltipp: Agnus Dei https://open.spotify.com/track/6o9ZMPxvU...ac0e93a3da84834
6. Händel – Brockes-Passion Wo andere verzwickt und kompliziert sind, ist Händel die Popsau, aber zum einen ist die Passionsgeschichte halt einfach auch Musicalstoff und zum anderen werfe als Erster sein steinernes Herz, der sich von so etwas nicht rühren lässt. Anspieltipp: Aria „Brich, Mein Herz, Zerfliess in Tränen“ https://open.spotify.com/track/2aLQNPfeR...0d33928a0be4b26
7. Hector Berlioz – Requiem + Orphee Dies irae, jüngstes Gericht, soll doch alles vor die Hunde gehen. Wut und Trümmer, Rauch und Geschrei und vielleicht irgendwo die Hoffnung auf Erlösung. Vielleicht aber auch nicht, es darf auch mal Zorn sein. Anspieltipp: Dies irae https://open.spotify.com/track/3ZmRJcqAy...6037d781e094e57
8. Johann Sebastian Bach – Actus tragicus Wieder Bach – im Moment der kompletten Kraftlosigkeit auf Gott zu vertrauen. Ist ja schön, dass es für ihn funktioniert hat, ist aber vor allem beeindruckend, dass er es immer wieder schafft, das einleuchtend zu vermitteln. Warum macht Musik mich mehr glauben, als das Wort? Anspieltipp: Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit, BWV 106 https://open.spotify.com/track/5mQ5qjMuc...ef8c374c6cf4ac4
9. Heinrich Schütz – Symphoniae Sacrae III Letztlich ist es alles ein Zusammenspiel von Transparenz, Harmonie und dem Stachel an der richtigen Stelle, der einen unvermittelt genau dort sticht, wo sich die Galligkeit und der Zynismus hartnäckig verkrochen haben. Ziehen letztere ab, haben erstere plötzlich den Raum, der ihnen zusteht. Anspieltipp: Wo der Herr nicht das Haus bauet https://open.spotify.com/track/03Ry2QeWX...50213fa41de481f
10. ludwig van beethoven - symphonie no.6 So darf es zum Schluss doch auch etwas versöhnlich werden. Beethovens sechste Symphonie als eingängiger Wohlklang, auch hier mit genügend Irritation, dennoch geht es aufwärts. Die Natur soll ja heilsam sein, hört man. Warum nicht auch von der Natur inspirierte Musik? Anspieltipp: „Pastorale: 1. Satz“ https://open.spotify.com/track/6o8HazHGH...f36acd5b76346bf
Sehr interessante Liste für mich, ich hatte beim letzten Mal auch eine Klassik-Liste, allerdings kenne ich hier trotz überwiegend bekannter Namen viele der Werke gar nicht. Das wird spannend!
"Happy Holidays... is what terrorists say. Merry Christmas, from Avery and Jack."
mich interessiert das auch, und in stunden freien geistes freu ich mich schon drauf. gibts dazu eigentlich ne playlist, oder müssen wir uns die selber basteln? (drosophilyps mit gimmick)
ich sehe den gelöschten beitrag jetzt nicht, bin aber nicht beleidigt, wenn sich jemand nicht für klassische musik begeistern kann. ich freue mich aber natürlich über alle, die reinhören und überlege, die von tenno geforderte playlist zu erstellen.
war ja auch nicht beleidigend gemeint, sondern mich interessiert klassik einfach zu wenig. aber das als ersten kommentar unter die liste zu klatschen, ist tatsächlich nicht so schön. daher hab ich ihn gelöscht. allen, die an deiner liste freude haben, wünsche ich viel spaß beim entdecken.
Zitat von drosophila im Beitrag #7ich sehe den gelöschten beitrag jetzt nicht, bin aber nicht beleidigt, wenn sich jemand nicht für klassische musik begeistern kann.
Ich schätze klassische Musik in den richtigen Situationen durchaus und höre mir das dann auch tatsächlich an. Früher gab es zwei Arten von Musik, die ich respektierte, aber zu denen ich keinen Zugang fand: Klassik und Jazz. Da es mit letzterem endlich sehr gut geklappt hat, und der schon ein dermaßen weites Feld ist, wäre ich mit einer näheren Beschäftigung mit Klassik komplett überfordert. Deswegen bin ich da auch komplett raus, wenn es um detailliertes Fachwissen geht. Ich kann einige wichtige Stücke (zumindest den Hauptteil) Komponisten zuordnen, das reicht mir als Allgemeinbildung.
We don't believe in anything we dont stand for nothing. We got no "V" for victory cause we know things are tougher.
(Iggy Pop/James Williamson: "Beyond The Law")
---------------------------------------------------------------- From the river to shut the fuck up.
meiner meinung nach braucht es das fachwissen auch nicht zwingend - natürlich kann es helfen, aber voraussetzung ist es nicht, vielmehr hilft es, sich (bei einem grundsätzlichen interesse daran) die zeit zu nehmen, immer mal wieder konzentriert hinzuhören. das ist beim jazz ja nicht anders, manche stücke sind einfach recht weit von dem, was wir als "normales musikhören" bezeichnen würden, ob nun rhythmus oder harmonien.
das fachsimpeln über notensetzungen, interpretationen und virtuosität ist oft auch pures distinktionsmerkmal und kommt gelegentlich von leuten, die den technischen aspekt der musik deutlich über den emotionalen stellen, da bin ich dann auch raus.
Ich mache das ähnlich. Meine Klassik-"Sammlung" ist auch recht willkürlich zusammengestellt. Meistens kaufe ich mal was, wenn ich in anderem Zusammenhang etwas darüber lese und dann rein höre und es dann gut finde. Auf die Interpretationen achte ich aber schon auch ein bisschen, weil es manchen Stücken nicht gut tut, wenn der Dirigent durch die Partitur hetzt (für mich das größere Problem), andere brauchen ein wenig Schwung, um richtig gut zu wirken.
Ich werde den oben gelisteten Aufnahmen sicherlich ein Ohr leihen. Von Bach und Beethoven habe ich auch einige Werke, aber andere als die hier genannten. Monteverdi ist mir bisher nur positiv aufgefallen, aber für eine Oper fehlt mir manchmal die Geduld. Ach, ich freue mich einfach.
http://www.last.fm/de/user/DerWaechter ehemaliger Influencer * Downtown * Radebrecht * "Die einzige Bevölkerungsgruppe, die man risikolos beleidigen kann, sind die Dummen. Da fühlt sich nie einer angegriffen." (Ronja von Rönne) “The sex and drugs have gone and now it’s just the rock ‘n’ roll” (Shaun Ryder)
Zitat von Johnny Ryall im Beitrag #10Auf die Interpretationen achte ich aber schon auch ein bisschen, weil es manchen Stücken nicht gut tut, wenn der Dirigent durch die Partitur hetzt (für mich das größere Problem), andere brauchen ein wenig Schwung, um richtig gut zu wirken.
da gehe ich komplett mit, das ist mir auch wichtig. in dem fall bewerte ich es dann aber eben emotional, soll heissen, herauszuspüren, ob ein stück schwung braucht oder eben nicht, und das dann umzusetzen, steht bei mir immer über der virtuosität.