Diesmal gibt es ein Album, das mich schon seit vielen Jahren begleitet und ausführlich vorgestellt wird. Anschließend dann noch neun Alben, die ich erst in jüngerer Zeit für mich entdeckt habe. Aufgrund dieser thematischen Unterteilung mache ich daraus zwei Beiträge:
1. Ani DiFranco – Little Plastic Castle (1998) Schon die Biografie der feministischen Songwriterin aus New York finde ich beeindruckend: Mit 14 Jahren trat sie mit eigenen Songs auf, mit 15 lebte sie bereits alleine und mit 19 gründete sie ihr bis heute aktives Label "Righteous Babe Records“, auf dem sie seither 20 Studioalben veröffentlichte. Ich möchte keines davon missen, denn alle haben zahlreiche sehr gelungene Songs zwischen Folk, Soul, Pop, Jazz und Indierock, wechselnd zwischen intimer Verletzlichkeit, Melancholie aber auch kämpferischem politischen Pathos zu bieten. „Little plastic castle“ aber ist mein liebstes daraus und zugleich wohl auch der beste Einstieg in ihr Werk, denn es bildet diese stilistische und emotionale Vielseitigkeit perfekt ab, teilweise sogar innerhalb der einzelnen Songs: So beginnt der titelgebende Opener als leise Akustikballade über die Gleichtönigkeit des Lebens („In a coffee shop in a city, which is every coffee shop in every city, on a day which is every day, I picked up a magazine, which is every magazine“), mündet aber nach gerade einmal einer Minute in einem verzückenden Ausruf beim Erblicken des/der Angehimmelten (“From the shape of your shaved head I recognized your silhouette as you walked out of the sun and sat down“) und verwandelt sich einen beschwingten, lebensfrohen Songbastard aus Folk, Dub-Bass und Mariachi-Bläsern. Diese Euphorie währt aber nur kurz, schon das folgende „Fuel“ spannt zu einem minimalistischen Folk-HipHop Beat den Bogen vom Schatten der Sklaverei und anderer Verbrechen in die politische Gegenwart („They were digging a new foundation in Manhattan and they discovered a slave cemetery there, may their souls rest easy now that lynching is frowned upon and we've moved on to the electric chair“) entwickelt daraus die Analogie zu den Geistern der Vergangenheit in unseren Biografien („They say that alcoholics are always alcoholics, even when they're dry as my lips for years […] and I wonder is he different, has he changed?“) und mündet im kämpferischen Aufruf, sich als Gesellschaft aber auch Individuum der Vergangenheit zu stellen („Dig deeper, dig deeper this time, down beneath the impossible pain of our history, beneath unknown bones, beneath the bedrock of the mystery“). Packendes Storytelling mit politischer Botschaft, das aber nie rechthaberisch oder belehrend wirkt, auch das beeindruckt mich an ihr und ihren Songs immer sehr. Kurzweilig und gekonnt geht es weiter mit dynamischem Folkrock („Gravel“, „Loom“), herzerweichenden Balladen („As is“, „Independence Day“) und wunderlichem Barjazz-Pop („Deep Dish“). Jeder dieser Songs hätte eine ausführlichere Vorstellung verdient, aber ich möchte mich auf den späten Höhepunkt von „Little plastic castle“ beschränken: Das finale, über 14-minütige „Pulse“ führt die verschiedenen inhaltlichen Fäden des Albums in einem bewegenden Closer zusammen: Eine beklemmende Reflexion über und zugleich eine Ode an unsere nächtlichen Ängste und Gedanken, das Leben, den Tod und ja, die Kraft der Liebe, die all dem Sinn verschafft:
100 years and then your grave is not your own, we lie in our beds and our graves, unable to save ourselves from the quaint tragedies we invent and then undo from the stupid circumstances we slalomed through.
And I realized that night that the hall light, which seemed so bright when you turned it on is nothing, compared to the dawn, which is nothing, compared to the light, which seeps from me while you're sleeping.
I would offer you my pulse I would give you my breath I would offer you my pulse
Wie oben geschrieben: Neun Alben und Künstler/-innen, die ich erst recht spät für mich entdeckt habe:
2. The Teardrop Explodes – Kilimanjaro (1980) Die ersten beiden Echo & The Bunnymen Alben gehören seit Ewigkeiten zu meinen absoluten Lieblingsalben, trotzdem bin ich erst sehr spät auf die musikalisch ganz ähnlichen, verschwägerten The Teardrop Explodes (die Sänger beider Bands - Ian McCulloch und Julian Cope - haben zuvor gemeinsam in einer Band gespielt) The Teadrop Explodes aufmerksam geworden. Wunderbar hektischer Post Punk mit schräger Orgel.
Treason (It's just a story)
3. Yo La Tengo – And then nothing turned itself inside out (2000) Die Band aus New Jersey habe ich auch erst vor wenigen Jahren für mich entdeckt und fühlte mich dabei oft etwas überfordert, denn der Output ist mit 16 Studioalben und zahlreichen Radiosessions und Compilations recht unübersichtlich, dazu sind die meisten Alben stilistisch (und manchmal auch qualitativ) sehr heterogen. Eine Ausnahme bildet „And then nothing turned itself inside out“ und ist deshalb auch mein Lieblingsalbum der Band: Fast durchgängig melancholische Songs, die sich an Electronica und Dream Pop anlehnen (Beach House dürften z.B. bei „Saturday“ sehr genau hingehört haben) und im wunderbaren fast 18-minütigen Closer „Night falls over Hoboken“ münden. Da darf man durchaus mal das zu oft bemühte Prädikat vom „Gesamtkunstwerk“ vergeben.
Our way to fall
4. The Sparks – Propaganda (1974) Selbstverständlich waren mir die The Sparks-Brüder ein Begriff, an deren gelungenem Comeback führte in den 90ern ja kein Weg vorbei, aber zu einer Beschäftigung mit dem Frühwerk konnte ich mich erst motivieren, nachdem mich das zusammen mit Franz Ferdinand aufgenommene „FFS“-Album sehr begeistert hatte (für jenes breche ich noch heute jede Lanze). „Propaganda“ von 1974 ist mit seinen rockigen, hymnischen Songs perfekt gealtert, finde ich, manche der Songs hätten genausogut in den 2000er Jahren erscheinen können, man höre nur mal „At home at work at play“ oder „Who don't like kids“.
At home at work at play
5. One Thousand Violins - Halcyon Days (Complete Recordings 1985-1987, 2014) Die musikalische Entdeckungsreise, die mir der vom Cherry Red wiederaufgelegte C86-Sampler, sowie die folgenden C87-C91 Compilations beschert haben, kann ich gar nicht genug würdigen. Die größte Entdeckung stellt dabei diese 1985-1989 aktive Band aus Sheffield dar. Musikalisch hörbar von den Smiths beeinflusst, sind die besten Songs der Band dem großen Vorbild absolut ebenbürtig. Und ich LIEBE „Why is it always December?“.
Halcyon Days
6. Meat Puppets – Up on the sun (1985) Klar, mit Nirvana und insbesondere deren Unplugged Set samt Gastauftritt der beiden Meat Puppets-Brüder Curt and Chris Kirkwood wurde ich musikalisch sozialisiert, aber erst 25 Jahre später habe ich selbiges wieder so richtig für mich entdeckt und mich dann konsequenterweise mal näher mit dem Output des besagten Trios (neben den Kirkwood Brüdern noch Drummer Derrick Bostrom) aus Phoenix beschäftigt. Das hat sich gelohnt, selbst die aktuellen Sachen der Band sind noch hörenswert. „Meat Puppets II“ von 1984, von dem ja drei Songs für das Unplugged-Seit gecovert wurden, ist sicher das bekanntere Album, aber den windschiefen Alternative Rock von „Up on the sun“ finde ich noch reizvoller.
Two rivers
7. Low – I could live in hope (1994) Nachdem ich über gut und gerne 15 Jahre fast jeden Song mochte, der mir von der US-amerikanischen Band um das Ehepaar Alan Sparhawk und Mimi Parker zu Ohren kam, habe ich mich vor einiger Zeit ja einfach mal zu einer chronologischen Beschäftigung mit ihrem Output gezwungen. Hat sich definitiv gelohnt, auch wenn ich ausgerechnet zu den beiden aktuellen Alben keinen richtigen Zugang finde. Den stärksten Eindruck hinterließ das majestätisch schwebende (5 €) Debütalbum mit seinen zeitlupenhaften Songs, auch hier zücke ich die Kategorie „Gesamtkunstwerk“.
Words
8. Yoko Ono – Approximately infinite universe (1973) Ja, auch ich gehörte jahrelang, wenn auch glücklicherweise passiv schweigend, dem „aber richtige Musik macht sie ja nicht“-Mob an. Dabei liegt die Wahrheit in Zeiten von Musikstreaming nur einen Klick entfernt: „Approximately infinite universe“ ist ein denkwürdiges, kraftvolles Statement, um endlich als Künstlerin „in her own rights“ anerkannt zu werden: 22 selbstgeschriebene Songs, richtiger Gesang, eine große stilistische Bandbreite und wunderbare Einzelmomente wie der Klimax von „What a bastard the world is“ und doch ist es weitgehend ungehört geblieben. Man muss das Album nicht mögen, aber beim nächsten dummen Kommentar über Yoko Ono lösche ich trotzdem das Internet.
What a bastard the world is
9. Altered Images – Happy Birthday (1981) Von der schottischen New Wave Band hatte ich bis vor einigen Wochen noch nie gehört, hätte sie dann aber beinahe als Vorgruppe von Human League live gesehen. Beim Nachhören, was ich da denn coronabedingt verpasst habe, hat mich das zeittypisch hektische Debüt sofort verzaubert. Einerseits voller (potentieller) Hits, andererseits teilweise erfreulich schräg und schrammelig. Jetzt bin ich natürlich erst recht traurig, dass das Konzert ausfiel.
Beckoning strings
10. Kurt Vile – Smoke ring for my halo (2011) Das Wunderbare am Leben als Musikliebhaber (ich finde daran überhaupt nichts nerdig) ist ja, dass das Entdecken von neuen Lieblingsinterpreten und -alben nie aufzuhören scheint. Sicher war mir Kurt Vile ein Begriff, aber ich hatte nie den Drank verspürt, mal konzentrierter in seinen Output reinzuhören, schon gar nicht, nachdem er mit der komplett überschätzten Courtney Barnett (Die entdecke ich dann sicher 2030 für mich) ein Album aufgenommen hatte. Vor zwei Wochen dann im Shuffle-Modus einen Song von ihm gehört und schon stecke ich knietief in der Diskographie. Bislang ist dieses ruhige Album von 2011 mein Favorit: Wunderliche, windschiefe, rührende, schrammelige Folksongs, deren Charme ich mich nicht zu entziehen vermag.
mit ani di franco hab ich mich seltsamerweise nie beschäftigt, obwohl die eigentlich immer im umfeld herumschwirrte. das werde ich dann mal zum anlass nehmen ...
ähnlich sieht's mit one thousand violins aus. (da kenne ich aber immerhin das stück auf "c87")
mit yoko ono hab ich's mehrmals versuch, aber abgesehen von einzelnen songs, kann ich mit ihrem zeugs wenig anfangen.
betr: altered images vor wenigen wochen das erste mal gehört und sehr angetan. manchmal dauert es halt ein paar jährchen.
1 und 4: Yeah! 1- Mein Geschmack der irgendwas- Jahre, wo ich mein erstes Auto mit Musik beschallt habe. Putzig.
4- Sparks' Propaganda hat sich meine ältere Schwester zusätzlich gekauft, als sie ihren besseren Plattenspieler bzw. Musikanlage kaufte und ich als Kind ( zu der Gelegenheit bekommen: Wum's Miezekatze) total stolz mitgehört habe. Propaganda ist so'n Ding, das mir in vielen Jahren meines Lebens durch den technischen Wechsel von LP auf CD und neuen Schrägheiten dieser merkwürdigen Sparks deswegen eine Goldmedaille verdient, weil ich die Platte meiner Schwester mit einer damals Einzelnadel der vorigen Plattenspielergeneration an Papas Monstergerät an anderer Songstelle ausprobiert habe: Zeitgleich mehrere Lieder gehört. War akustisch super, technisch experimentell, und als ich 10 Jahre alt wurde, gab es deswegen Taschengeldkürzung, um ihre kaputte LP zu ersetzen. Ich liebe die Platte alleine für Never Turn Your Back To Mother Earth. Die Specials auf der späteren CD habe ich nie durchgehört, ich fand die nicht schön.
Aber lustig, die CD in diesem Forum vorzufinden. Ich war bass erstaunt!
One Thousand Violins: In meinem Besitz, aber geht so, Muss mal wieder reinhören, egal, was ich vorher gedacht habe.
Zitat von LFB im Beitrag #2Von der schottischen New Wave Band hatte ich bis vor einigen Wochen noch nie gehört.
Zitat von gnathonemus im Beitrag #3betr: altered images vor wenigen wochen das erste mal gehört und sehr angetan. manchmal dauert es halt ein paar jährchen.
Ihr macht Witze, oder?
http://www.last.fm/de/user/DerWaechter ehemaliger Influencer * Downtown * Radebrecht * "Die einzige Bevölkerungsgruppe, die man risikolos beleidigen kann, sind die Dummen. Da fühlt sich nie einer angegriffen." (Ronja von Rönne) “The sex and drugs have gone and now it’s just the rock ‘n’ roll” (Shaun Ryder)
Eigentlich nicht. Zumindest mich trennen aber auch gut und gerne 10 Lebensjahre von der moralischen Verantwortung, jede halbwegs relevante Band der 80er zu kennen.
http://www.last.fm/de/user/DerWaechter ehemaliger Influencer * Downtown * Radebrecht * "Die einzige Bevölkerungsgruppe, die man risikolos beleidigen kann, sind die Dummen. Da fühlt sich nie einer angegriffen." (Ronja von Rönne) “The sex and drugs have gone and now it’s just the rock ‘n’ roll” (Shaun Ryder)
Zitat von gnathonemus im Beitrag #3betr: altered images vor wenigen wochen das erste mal gehört und sehr angetan. manchmal dauert es halt ein paar jährchen.
Das sowieso. Ich sowieso auch. So war das auch nicht gemeint, aber bei dir hätte ich das an der Stelle halt nicht gedacht.
http://www.last.fm/de/user/DerWaechter ehemaliger Influencer * Downtown * Radebrecht * "Die einzige Bevölkerungsgruppe, die man risikolos beleidigen kann, sind die Dummen. Da fühlt sich nie einer angegriffen." (Ronja von Rönne) “The sex and drugs have gone and now it’s just the rock ‘n’ roll” (Shaun Ryder)
Interessante Liste. Ich werde mich da mal durchhören. Die Hälfte der Alben habe ich zumindest noch nie angehört. Und Altered Images kannte ich bislang nicht mal vom Namen. Aber nun habt ihr mich ordentlich neugierig gemacht
Finde die Liste auch sehr interessant. Altered Images hat doch einen fantastischen Geburtstagsklassiker, den muss man doch kennen und lieben.
Die Alben von Teardrop Explodes, Yo La Tengo und One Thousand Violins mag ich auch sehr, besonders letztgenannte. Meat Puppets kenne ich nur vom Namen (vielleicht beim Durchblättern im CD Laden? Damals als man noch in Musikläden ging, hach...). Wird nachgeholt und klingt vielversprechend. An Yoko Ono wage ich mich noch nicht ran und ich glaube mit Ani DiFranco werde ich auch nicht warm, werde es aber mal versuchen.
Zitat von Vermooste_Pfote im Beitrag #12Finde die Liste auch sehr interessant. Altered Images hat doch einen fantastischen Geburtstagsklassiker, den muss man doch kennen und lieben.
Kennen ja, wie ich gerade festgestellt habe. Lieben leider unmöglich bei dieser Stimme.