Alle gelisteten Platten erschienen zwischen 1977 und 1982. Es ist keine Top Ten, aber alle sind für mich wichtig und werden heute noch regelmäßg gehört. Auf die Dexys verzichte ich ebenso wie auf die Specials oder die Beatles, die ich alle schon in meinen „15 Platten“ mal erwähnt habe. Eine Reihung sähe ohnehin mit Ausnahme der Plätze Eins bis Vier jede Woche etwas anders aus. Gleichwohl ist es vermutlich „Closer“, wenn ich ich mir nur eine einzige Platte aussuchen dürfte.
Die Eindrücke dieser Platte haben sich in den vergangenen 38 Jahren oft gewandelt, verschoben und neu orientiert, aber niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass die Platte eben doch nicht sooo toll sein könnte.
Und da „Closer“ ohnehin jeder kennt, es abertausende Rezensionen gibt und ich sowieso ein lausiger Rezensent bin, gehe ich auf einen Punkt ein, der m.E. noch nicht in epischer Breite behandelt wurde. Das ist die Tatsache, dass sich die Vier-Mann-Band Joy Division, die man live oder auf frühen Studiotonträgern hören kann, gewaltig von der Fünf-Mann-Band Joy Division unterscheidet, die wir auf „Unknown Pleasures“, aber noch viel mehr auf „Closer“ hören können.
„Closer“ gehört zu den größten und gewaltigsten Produktionen, die ich kanne. Wann immer die Namen Phil Spector, Trevor Horn, Brian Eno, Conny Plank oder Danger Mouse fallen, ein wichtiger Name in dieser Reihung muss Martin Hannett heißen. Hannett war mindestens der fünfte Joy Division wie George Martin der fünfte Beatle war. Mit dem Unterschied, dass den Beatles der Umstand bewusst war und Martin Hannett vermutlich, außer von Curtis selbst, von den Bandmitgliedern nicht verstanden wurde. Sie ließen es mehr über sich ergehen als in Begeisterung zu verfallen. Der Einfluss von Hannett auf die Plattenproduktionen wird bewusst, wenn man sie mit dem Livematerial vergleicht. Nicht die Fehler, die JD immer wieder mal unterliefen, sondern die komplette Soundästhetik wurde derart verändert, dass man hier nahezu unterschiedliche Musikrichtungen hören konnte. Der raue, aggressive Sound der Auftritte wich auf „Closer“ einem Sound, der weit weg von damals gängigen New Wave Produktionen war. Martin Hannett war weitaus näher an Lee Perry als an Rockproduzenten, was mher als einmal zu Unstimmigkeiten innerhalb der Band führte. Er hatte die Grenzen des Punk erkannt, sein Interesse galt der ungewöhnlichen Klangverfeinerung und der psychedelischen Musik der Sechzigerjahre.
Hannett verstand es, der Band einen Sound zu verpassen, in dem er mit Hall und Echo spielte, Mikrofone an den unterschiedlichsten Stellen des Schlagzeugs positionierte und selbiges stark in den Vordergrund mischte. Diesbezüglich war er ohnehon besessen. Mehrfach musste Morris sein Schlagzeug komplett zerlegen, wenn Hannett irgendwo ein unpassendes Rasseln wahrnehmen konnte. Kein Instrument war vor einem Effektgerät sicher und auch die Stimme von Curtis erlangte durch den Zusatz von Hall oder leichter Verfremdung mehr Bedrohlichkeit oder wahlweise Verzweiflung. Und Hannett erkannte, dass Curtis ein verkappter Soulsänger war, entstanden einige der gesungenen Melodiebögen auf seinen Vorschlag. Zudem war Curtis beim Einspielen seiner Gesangsparts mit Hannett alleine im Studio, was die Atmosphäre weiter verdichtete.
Der Einstieg mit „Atrocity Exhibition“ war für alle befremdlich, auch für die Liebhaber von „Unknown Pleasures“. Sägende Gitarren begleiteten durchgespielte „Rolling Toms“. Der Titel ist vermutlich eine Anspielung auf den Roman von J.G. Ballard. Früher konnte man für Irrenanstalten bezahlen und die Insassen betrachten, es war eine beliebte Attraktion, ähnlich wie in den Zoo zu gehen. Bizarr und ungeschliffen klingt auch „Colony“, eine Ahnlehnung an Kafkas „In der Strafkolonie“. Andere Stimmen behaupten, der Text sei eine Zustandsbeschreibung seiner Ehe und von Courtney Love heißt es, sie habe zu den Klängen des Stückes ihre Unschuld verloren.
Deutlich mehr Raum haben Songs wie „Heart And Soul“ oder „The Eternal“, die gleichermaßen die Entwicklung von Joy Division als auch die Entwicklung von Hannett zeigen, den Klängen mehr Zeit zu geben und vielmehr die Töne zu modulieren als möglichst viele von ihnen aneinanderzureihen. Den deutlich gesteigerten Einsatz von Synthesizern wiederum kann man auf „Isolation“ und „Decades“ wahrnehmen, ersteres entwickelte sich neben der Single „Love Will Tear Us Apart“ schnell zu einem kleinen Tanzboden-Hit inr New-Wave-Discotheken.
„Closer“ ist ein Album, dass der Geschichte der Musik mehr als nur einen Stempel aufgedrückt hat und wurde zu einem Meilenstein, der ähnlich dem Debüt von Velvet Underground, immer wieder als Vorbild und Initialzündung für die Entstehung späterer Bands genannt wird. Selten gab es eine Platte, die den Gemütszustand eines Protagonisten so perfekt in Töne umwandelte. Man kann die Palette von der Besessenheit über die Verzweiflung bis hin zur Resignation Curtis’ nicht nur hören, man kann sie spüren.
Martin Hannett , der einige Jahre später durchaus noch Erfolge vorweisen konnte, unter anderem mit den Happy Mondays oder Magazine, starb am 18. April 1991 im Alter von 42 Jahren an den Folgen seines Drogenkonsums und seiner Fettleibigkeit.
Ian Curtis erhängte sich bekanntermaßen in den Morgenstunden des 18. Mai 1980 am Tag der Abreise zur ersten Amerika Tournee. Der Rest der Geschichte heißt New Order.
Wire - 154 (1979)
Der Sprung von „Chairs Missing“ zu „154“ war ein gigantischer Sprung, wenn auch nicht für die Menschheit, dann immerhin für eine Band, die zur Zeit der ersten beiden Platten zu den „Intellektuellen des Punk“ gezählt wurde. Hier haben wir es mit einer enorm vielseitigen, höchst intensiven und stellenweise umwerfend poppigen Platte zu tun.
Throbbing Gristle - 20 Jazz Funk Greats (1979)
Ich glaube nicht, dass diejenigen, die diese Platte nicht zur Zeit der Veröffentlichung 1979 gehört haben, ihre Bedeutung nachvollziehen können. Hier wurde höchst experimenteller Musik, die man später „Industrial“ nennen sollte, die aber nur wenig mit späteren „Industrial Bands“ zu tun hatte, ein leichter konsumierbarer Rahmen gegeben, ohne dabei auf den Wahnsinn zu verzichten. Mag sein, dass diese Musik heute etwas harmlos klingt, damals war sie es sicher nicht.
The Jam - The Gift (1982)
The Gift war das letzte Album der Band und brachte der Band den Soul , der später von The Style Council verfeinert wurde, ohne allerdings auf die Energie der früheren Platten von The Jam zu verzichten. Für mich ihr bestes Werk.
Television Personalities - Mummy You're Not Watching Me (1982)
Hier wird das kinderliedhafte des Debütalbums um eine ganze Portion Psychedelic erweitert, wundervolle Pop-/Mod-Songs bekamen den Anstrich der frühen Pink Floyd. Und mit „If I Could Write Poetry“ enthält die Platte das schönste Liebeslied, das jemals eine Band auf diesem Planeten geschrieben hat.
Pubic Image Limited - Metal Box (1979)
Was für ein Zeug! John Lydon, ehemaliger Frontmann der Sex Pistols, nölte hier zu unglaublich schweren und dennoch tanzbaren Bassklängen von Jah Wobble. Eines der wichtigsten Stücke der Post Punk Geschichte, das spielrisch mit dem Dub des Reggae umging. Und mit der Vertonung von Tschaikowskys „Schwanensee“ gab es als „Death Disco“ so etwas, was man heutzutage „Indie Hit“ nennen würde.
Thomas Leer & Robert Rental - The Bridge (1979)
Ein großer Erfolg war dem Duo nicht beschieden, Thomas Leer hatte später einige Achtungserfolge, aber „The Bridge“ ist ein Werk , das textlich von William S. Burroughs inspiriert wurde und dessen elektronische Experimente und Sequenzerschleifen Bands wie Cabaret Voltaire stark beeinflussen sollten.
John Cale - Music For A New Society (1982)
Wie kann man ein Album nur so unterschätzen. Kommerziell ein Flop, aber ein dunkles, getragenes Meisterwerk. Hoch spannend arrangiert und „Freude schöner Götterfunken“ wird zu „Damn Life. Sachen gibt’s.
The Congos - Heart Of The Congos (1977)
Besser kann man Roots Reggae nicht machen. Hinter den lieblich gesungenen Harmonien packt Lee Perry seine komplette Trickkiste aus und serviert neben vertrauten Sounds tiefen Dub und eine ganze Reihe ausgeklügelter Effekte, die damals völlig neu und heute immer noch spannend sind.
The Pop Group - Y (1979)
Ein völlig verrücktes Punkalbum, das eigentlich ein Jazzalbum, ein Funkalbum, ein Dubalbum oder ein Beefheart Album war. Wild, verrückt und nur schwer zu ertragen. Es fordert, aber es lässt einen niemals gleichgültig zurück.
Zitat von Von Krolock im Beitrag #1 Throbbing Gristle - 20 Jazz Funk Greats
Ich glaube nicht, dass diejenigen, die diese Platte nicht zur Zeit der Veröffentlichung 1979 gehört haben, ihre Bedeutung nachvollziehen können. Hier wurde höchst experimenteller Musik, die man später „Industrial“ nennen sollte, die aber nur wenig mit späteren „Industrial Bands“ zu tun hatte, ein leichter konsumierbarer Rahmen gegeben, ohne dabei auf den Wahnsinn zu verzichten. Mag sein, dass diese Musik heute etwas harmlos klingt, damals war sie es sicher nicht.
haha, hast du das cover selbst gemacht, oder parodieren lassen?! ein grund mehr, TG wieder vom grunde meiner to-do-liste nach oben zu hieven, und mich endlich mal damit zu beschäftigen!
Hier kenne ich durchaus viel von bzw. habe die Alben mit teils anderen Covern. Nur die Congos und Th. Leer/Rental kenne ich nicht... da höre ich einfach mal bei Leer rein...
"Good taste is the worst vice ever invented" (Edith Sitwell)
Thomas Leer kenne ich vor allem von Act, seiner Zusammenarbeit mit Claudia Brücken. Steht bei mir sehr hoch im Kurs, da werde ich unbedingt reinhören. Viele andere Sachen kenne ich nicht, Joy Division mag ich nicht. Also ein Skip-Album für mich. Throbbing Gristle waren schon sehr visionär damals, wie sich aus dem Cover schließen lässt.
Ein interessantes Konzept, diese relativ enge Beschränkung. Aber die Anzahl an Klassealben gibt dir Recht. Von Joy Division hat mich des Debut immer etwas mehr berührt, auch wenn ich deinen Text super und komplett nachvollziehbar finde. Von Wire hatte ich "Pink Flag" auf der Shortlist, der Rest ist mir teilweise bekannt, teilweise besitze ich andere Alben der Bands, teilweise (Pop Gruop, Congos, Leer & Rental) sagt mir das gar nichts. Das musikalische Umfeld lässt mich erahnen, dass ich das mal nachholen sollte.
"Happy Holidays... is what terrorists say. Merry Christmas, from Avery and Jack."
"Y" ist schon zurecht einer der großen Klassiker des PostPunk, Von Krolock hat's ja perfekt auf den Punkt gebracht. Und Mark Stewart auch ein sehr toller Sänger. Die Experimentierfreude damals ist schon beeindruckend - siehe auch Stewarts Soloalbum aus meiner Liste
Eine meiner Alben enthält ein Cover von Joy Division. Damit endet dann auch die Gemeinsamkeit. Die Liste der zu bearbeitenden Werke wird immer länger, Weihnachten muss ausfallen.
ME-Leser 1984 bis 2016 - ME-Forum seit 30.04.2003 - Erster Beitrag: "Wo kann ich mich hier wieder abmelden?" Heavy Rotation → ◉ Jake Bugg (2024) A Modern Day Distraction ◉ Julie (2024) The Ant-Aircraft Friend ◉ Towa Bird (2024) American Hero ◉ The Courettes (2024) The Soul Of... The Fabulous Courettes ◉ Noga Erez (2024) The Vandalist
Die Tage habe ich mir mal die Gift von The Jam angehört. Wäre bei mir jetzt nicht in der Liste gelandet, dafür gefällt mir das nicht durchgänging gut genug. Selber habe ich nur die Best of: "Snap".
fällt mir gerade erst auf: das ist die einzige liste, von der ich alle habe und auch alle sehr schätze, auch wenn keine davon in meiner liste gelandet ist.