Ton Steine Scherben - Keine Macht für Niemand (1972)
Zu einer perfekten Platte gehört mehr als perfekte Musik – sie muss dich im perfekten Moment treffen. Und diese Platte kam im perfekten Moment in mein Leben. Der Kopf war noch offen für die eingängigen politischen Parolen, die seit dem nur ein Jahr zurückliegenden „Warum geht es mir so dreckig“ zielsicherer und zugleich abstrakter geworden waren.
Aber wer „Keine Macht für Niemand“ für eine primär politische Platte hält, liegt knapp, aber bedeutend neben der Wahrheit. Hier geht es zuerst um Innerlichkeit. „Wir müssen hier raus“ als Opener bezieht sich natürlich auf den Mief drumherum, aber in erster Linie ist es der Ausbruch zweier Menschen, denen sich in ihrer Zweisamkeit eine Grenzenlosigkeit bietet. Ja, die Platte ist politisch. Aber im Kern ist sie vor allem romantisch, idealistisch, das Glück im Zwischenmenschlichen suchend.
Das Kriterium der perfekten Musik erfüllt „Keine Macht für Niemand“ ohnehin spielerisch. Besser als „Wir müssen hier raus“ kann man eine Platte nicht eröffnen, so dringlich, es geht raus, zusammen mit Rio, in dessen Bett „grad noch Platz für dich“ ist. Für auch nur einen Song wie „Allein machen sie dich ein“, „Schritt für Schritt ins Paradies“ oder „Der Traum ist aus“ hätten andere ihre Seele verkauft – hier reihen sie sich dicht an dicht. Die Musik ist für mich ein Vehikel der Texte, was keineswegs so geringschätzig gemeint ist, wie es möglicherweise klingt. Treibend wie im Opener, fröhlich rumpelnd wie in „Mensch Meier“ oder dem „Rauch-Haus-Song“, ausufernd wie in „Der Traum ist aus“, leise, einen ganz kleinen Raum aufmachend wie in „Komm schlaf bei mir“ - mit diesen Texten eine künstlerische Einheit zu bilden, ist alles andere als eine kleine Leistung.
Schließen tut die Platte mit „Komm schlaf bei mir“, das nicht weniger als den schönsten deutschsprachigen Liebesliedtext bietet. „Über Sex kann man nur auf Englisch singen“ wird es auf einer weiter unten gelisteten Platte heißen – da hat offensichtlich jemand Rio Reiser verpasst. Der konnte das. Der konnte alles. Mir hat er die Platte meines Lebens geschenkt.
The Beatles - Abbey Road (1969) Beatles, klar, No-Brainer. Welches Album? Abbey Road siegt knapp vor „Magical Mystery Tour“. Man merkt, dass hier schon jeder im Kopf bei sich ist - aber „Something“, „Here Comes The Sun“, „Come Together“ - solang es dafür „reicht“… And in the end, the love you take is equal to the love you make.
King Crimson - In the Court of the Crimson King (1969) Geködert durch das Cover, das mich noch immer kriegt, wollte ich die Platte als Kind immer wieder hören. Ein Gefallen, den mein Vater mir gern getan hat. Prog ist irgendwann zum Schimpfwort verkommen – nicht zufällig erst später, denn hier steht jede Extravaganz im Dienst der überragenden Songs.
Leonard Cohen - Songs of Love and Hate (1971) Vierzehn Studioalben hat Cohen aufgenommen, und trotzdem brauche ich keine Sekunde Bedenkzeit, um das Beste zu küren. Nie war er so düster wie auf „Songs of Love an Hate“. „Avalanche“ zieht uns als Opener direkt mit in die Tiefe, „Famous Blue Raincoat“ ist die Definition nächtlicher Melancholie.
Joy Division - Unknown Pleasures (1979) „I‘ve been waiting for a guide to come and take me by the hand“ - ich liebe gute Anfänge. Düster, hypnotisch, manisch, kühl und heiß pulsierend, dazu die Stimme von Ian Curtis, die mit kleinen Mitteln eine unglaubliche Bandbreite an Emotionen – Beklemmung, Besessenheit, Verzweiflung – erlebbar macht.
Fehlfarben - Monarchie und Alltag (1980) Als „Neue Deutsche Welle“ noch New Wave war, und nicht Markus. Peter Hein kennt das Leben, er ist im Kino gewesen. Zumindest in England war er Ende der 70er. Gleich 1980 einfach mal die beste deutsche Punk-/New-Wave-Platte und damit eigentlich auch schon den Deckel auf das entstehende Genre gemacht.
Morrissey - Vauxhall and I (1994) „Findest du die wirklich besser als die Smiths-Platten?“ Naja. Eigentlich nicht. Dann aber irgendwie doch, denn so nah an meinem Herzen wie hier war Morrissey vorher und nachher nicht mehr. Pathetisch, clever, die große Geste in Text, Song und Produktion, aber noch ohne spätere Altmännerverbitterung.
Tocotronic - Digital ist besser (1995) Schrammeltocotronic bleiben die besten Tocotronic. Das Problem grauer Samstage, nicht weitgenuge Welt, Sommernostalgie, Sommerferienendabende – das ist meine Welt. Dieser Sound ist mein Sound, der Text mein Text. Ich erkenne die Musik kaum noch als solche – ich merk ja auch nicht, dass ich Haut anhabe.
Joanna Newsom - Ys (2006) Nach dem schon ziemlich schrägen Vorgänger fiel „Ys“ aus jedem Rahmen raus. Was ist das? Epische Harfenstücke, traumhaft unterlegt mit Van Dyke Parks‘ Streicherarrangements, Texte aus einer anderen Welt, Spannungsbögen jenseits von Gut und Böse – ein strahlendes, großes Wunder.
Fleet Foxes - s/t (2008) Fünf junge Männer aus Seattle machen 2008 Musik, die nach sechs alten Männern aus Appalachia 1968 klingt - und das Ergebnis ist der Beweis, dass auf Authentizität echt mal gepflegt geschissen werden darf. Ein Freund schrieb mal „pure gold coming out of their mouths“ - mehr Beschreibung braucht es nicht.
"Happy Holidays... is what terrorists say. Merry Christmas, from Avery and Jack."
Ich wundere mich auch. Die "Songs of Love and Hate" ist meine zweitliebste Cohen-Platte. An die Fehlfarben hatte ich auch kurz gedacht. Manchmal denke ich, dass der Berthold und ich musikalisch gar nicht so weit voneinander entfernt sind. Erstaunlich auch hier: Die jüngste Platte ist zehn Jahre alt. Wären bei mir nicht Wanda dazwischengegrätscht, wäre das bei mir auch so gewesen. Hat das was mit Erwachsenwerden zu tun oder der Qualität der Musik?
Die letzten Sechs in der Playlist: Honeyglaze - Real Deal || Laura Marling - Patterns In Repeat || Nieve Ella - Watch It Ache and Bleed || Dawn Richard & Spencer Zahn - Quiet In a World Full of Noise || Flip Top Head - Up Like a Weather Balloon || Haley Heyndericks - Seed of a Seed
Cohen, Newsom, Tocotronic, alles Platten, die auch in meiner Liste hätten stehen können. Ton Steine Scherben: Eine Platte, die auf meiner Liste hätte stehen müssen. Sehr schön auf den Punkt gebracht, warum das eines der größten deutschsprachigen Alben überhaupt ist, wenn nicht das größte.
Ok, mit sechs Alben aus der Liste gibt es hier schon einmal eine Übereinstimmung mit meinem Musikregal. Überraschend mit dabei auch King Crimson... altersbedingt habe selbst ich deren "Phase 1" einst nur per Backkatalog gekauft... Mit mir und Morrissey wird es wohl eher nichts mehr...
"Good taste is the worst vice ever invented" (Edith Sitwell)
Lustigerweise konnte mit der "Ys" nie was anfangen. Das Vorgängeralbum finde ich bezaubernd. Man muss sich natürlich auf die Stimme einlassen.
Die letzten Sechs in der Playlist: Honeyglaze - Real Deal || Laura Marling - Patterns In Repeat || Nieve Ella - Watch It Ache and Bleed || Dawn Richard & Spencer Zahn - Quiet In a World Full of Noise || Flip Top Head - Up Like a Weather Balloon || Haley Heyndericks - Seed of a Seed
Zitat von JackOfAllTrades im Beitrag #9Lustigerweise konnte mit der "Ys" nie was anfangen. Das Vorgängeralbum finde ich bezaubernd. Man muss sich natürlich auf die Stimme einlassen.
Für mich war "Ys" der erste Berührungspunkt, den Vorgänger habe ich mir dann später geholt, aber nie ähnlich gut gefunden. Aber ich finde ja ohnehin, dass "Divers" das ganz herausragende Album ist.
Zitat von JackOfAllTrades im Beitrag #3Ich wundere mich auch. Die "Songs of Love and Hate" ist meine zweitliebste Cohen-Platte. An die Fehlfarben hatte ich auch kurz gedacht. Manchmal denke ich, dass der Berthold und ich musikalisch gar nicht so weit voneinander entfernt sind. Erstaunlich auch hier: Die jüngste Platte ist zehn Jahre alt. Wären bei mir nicht Wanda dazwischengegrätscht, wäre das bei mir auch so gewesen. Hat das was mit Erwachsenwerden zu tun oder der Qualität der Musik?
Wir sind eben beide musikexpresssozialisiert. Siehe deinen Thread, auch bei deinen Top 10 ist viel für mich dabei. Der Mangel an aktuellen Platten hat zumindest bei mir in erster Linie damit zu tun, dass ich neue Musik leider oft nicht mehr so intensiv höre wie früher. Mit 16 hatte ich ein neues Album, und dann wurde das sechs Wochen in Dauerrotation gehört. Viel hab ich mir damit verdorben, aber das, was überlebt, ist so tief eingebrannt, wie es heute bei dem großen und einfach erreichbaren Angebot nicht mehr passiert. Dazu hab ich zur Zeit auch sehr wenig Zeit für ruhiges, intensives Musikhören. Und dann brauchen Platten natürlich auch ein bisschen, um sich auf den Olymp vorzukämpfen, was sind da schon zehn Jahre? An der Musik liegt es eher nicht, denke ich, die wird sicher nicht besser oder schlechter.
"Happy Holidays... is what terrorists say. Merry Christmas, from Avery and Jack."
Zitat von akri im Beitrag #6Ok, mit sechs Alben aus der Liste gibt es hier schon einmal eine Übereinstimmung mit meinem Musikregal. Überraschend mit dabei auch King Crimson... altersbedingt habe selbst ich deren "Phase 1" einst nur per Backkatalog gekauft... Mit mir und Morrissey wird es wohl eher nichts mehr...
60% meiner Liste gingen schon geburtsbedingt nur über den Backkatalog. Ist mir auch aufgefallen, auf der Shortlist waren auch verhältnismäßig mehr "aktuelle" Platten (sprich: nur 10-20 Jahre alt), irgendwie konnten sich die aber am Ende nicht durchsetzen. Vielleicht ein Konzept fürs nächste Jahr, denen mal bewusst den Vortritt zu lassen.
"Happy Holidays... is what terrorists say. Merry Christmas, from Avery and Jack."
Zitat von JackOfAllTrades im Beitrag #9Lustigerweise konnte mit der "Ys" nie was anfangen. Das Vorgängeralbum finde ich bezaubernd. Man muss sich natürlich auf die Stimme einlassen.
Für mich war "Ys" der erste Berührungspunkt, den Vorgänger habe ich mir dann später geholt, aber nie ähnlich gut gefunden. Aber ich finde ja ohnehin, dass "Divers" das ganz herausragende Album ist.
1. Ys 2. Milk-eyed Mender/Have one on me 4. Divers
Das Wertungsspektrum bewegt sich allerdings im Bereich von 8-10/10. Mir gefallen die Popminiaturen vom Debüt genau wie die etwas runderen, späteren Werke. "Ys" bleibt für mich einzigartig und unerreicht. An der Stimme scheiden sich natürlich die Geister, grad bei "Ys" finde ich, dass sie dem Wohlklang einen wichtigen Reibungspunkt hinzufügt.
"Happy Holidays... is what terrorists say. Merry Christmas, from Avery and Jack."
Zitat von Quork im Beitrag #4Cohen, Newsom, Tocotronic, alles Platten, die auch in meiner Liste hätten stehen können. Ton Steine Scherben: Eine Platte, die auf meiner Liste hätte stehen müssen. Sehr schön auf den Punkt gebracht, warum das eines der größten deutschsprachigen Alben überhaupt ist, wenn nicht das größte.
Zitat von burnedcake im Beitrag #5Sehr, sehr toll, schöne Alben, famos geschrieben.
Zitat von tenno im Beitrag #7auch mit deiner playlist könnten wir einen schönen abend verbringen! (ohne natürlich auch, aber das wäre ohnehin mal wieder nett.)
Danke euch!
Zitat von MrMister7 im Beitrag #10Mit der Abbey Road sitzt du im Bus direkt neben mir - mit dem Rest auf dem Mond.
Immerhin eine schöne gemeinsame Busfahrt - reicht doch manchmal auch.
"Happy Holidays... is what terrorists say. Merry Christmas, from Avery and Jack."