Der Thread fehlt noch, obwohl wir doch immer mal wieder über solche Themen diskutieren. Den Anfang machen nicht die üblichen Verdächtigen wie Charles Bukowski oder Ernest Hemingway oder Knut Hamsun oder Lovecraft, sondern Neil Gaiman.
Kurzer Abriss, falls ihn jemand nicht kennen sollte: Gaiman erfand die Geschichten der Sandman-Comicreihe, die Anfang bis Mitte der 90er erschien (und mittlerweile als sehr gute Netflix-Serie verfilmt wurde), schrieb unzählige Romane wie das großartige American Gods (auch als Serie umgesetzt), den nicht minder großartigen Nachfolger Anansi Boys, Coraline (verfilmt), The Graveyard Book usw. - und natürlich Good Omens in Zusammenarbeit mit Terry Pratchett. (Klar wurde daraus eine Serie gemacht ...) Ein sehr erfolgreicher britischer Schriftsteller also, in Fantasy-Kreisen hoch verehrt, seit seiner Ehe mit Amanda Palmer auch einer Handvoll Musikfreund*innen nicht mehr unbekannt, allgemein ein scheinbar schlauer und netter Mensch. Leider auch ein Mensch, der mutmaßlich gerne Frauen zum Sex zwingt.
Ich weiß gar nicht, wie ich jetzt mit seinem Werk umgehen soll, das ich wirklich sehr schätze. Die allermeisten seiner Bücher habe ich gelesen, einige sogar mehrfach, und wirklich geliebt. Ich weiß, man kann den Künstler/ die Künstlerin von der Kunst trennen, aber irgendwie gelingt mir das bei Menschen aus der Vergangenheit - lies: Toten - irgendwie besser. Es ist, als könnte ich deren Fehlverhalten eher theoretisch betrachten, es von mir wegschieben. Lovecrafts Fremdenhass zum Beispiel hält mich nicht davon ab, seine Geschichten zu lesen und zu genießen. Bei Gaiman gelingt mir das gerade nicht. Das finde ich schade, denn gerade American Gods und Anansi Boys zählten lange zu meinen Lieblingsbüchern. Wie kann man mit so etwas umgehen? Und geht euch das auch so, dass ihr mit zeitgenössischen Künstler*innen bei krassem Fehlverhalten eher brecht als mit Menschen der Vergangenheit?
You all want the whole world to be changed so you will be different.
Schwierig. Ich muss sagen, dass ich bei Gaimann besonders enttäuscht hatte, weil ich zuvor ein sehr anderes Bild von ihm hatte. Zu erkennen, wieviel von meiner Phantasie und meinen Wertvorstellungen ich in diesen Mann hineinprojiziert habe, schmerzt.
☟ smog in berlin. nichts wie hin. weil du mich küsst, bin ich kein tourist.
Zitat von Lumich im Beitrag #2Schwierig. Ich muss sagen, dass ich bei Gaimann besonders enttäuscht hatte, weil ich zuvor ein sehr anderes Bild von ihm hatte. Zu erkennen, wieviel von meiner Phantasie und meinen Wertvorstellungen ich in diesen Mann hineinprojiziert habe, schmerzt.
Das trifft es sehr genau!! Ich verwehre mich dagegen, ihn als Held verehrt oder auf ein Podest gestellt zu haben, aber ich hielt ihn für einen guten Menschen. Und ich glaube, ein bisschen wollte ich Menschen wie ihn als Vorbild*. Jetzt dann doch lieber nicht.
*Mist, das ist verdammt nah dran am Podest, oder??
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Zitat von Mory im Beitrag #1irgendwie gelingt mir das bei Menschen aus der Vergangenheit - lies: Toten - irgendwie besser. Es ist, als könnte ich deren Fehlverhalten eher theoretisch betrachten, es von mir wegschieben.
Bei mir auch, ganz einfach, weil es keine große Rolle mehr spielt. Der Typ war ein Arschloch, aber er ist tot; der tut niemand mehr was und profitiert von nichts mehr.
Es kommt natürlich immer drauf an, was das Problem ist. Bei politischem Fehlverhalten bin ich da nachsichtiger als bei persönlichem. Bei Leuten, die sexuelle Übergriffe begangen haben, bin ich da eigentlich am härtesten, weil mich so etwas generell anwidert und das auch im persönlichen Umfeld von mir nicht toleriert wird.
We don't believe in anything we dont stand for nothing. We got no "V" for victory cause we know things are tougher.
(Iggy Pop/James Williamson: "Beyond The Law")
---------------------------------------------------------------- From the river to shut the fuck up.
So wie Mory von Gaiman schockiert war, war es bei mir mit Win Butler. Und dennoch habe ich danach das letzte Album noch gehört. Aber trotzdem dachte ich oft: Ist das richtig oder sollte ich Arcade Fire nun ignorieren?
Die letzten Sechs in der Playlist: Honeyglaze - Real Deal || Laura Marling - Patterns In Repeat || Nieve Ella - Watch It Ache and Bleed || Dawn Richard & Spencer Zahn - Quiet In a World Full of Noise || Flip Top Head - Up Like a Weather Balloon || Haley Heyndericks - Seed of a Seed
Bei mir war es Cee - Lo Green. Hab da alles rausgefeuert, allein von der ersten Goodie Mob konnte ich mich nicht trennen. Daß das eine vierköpfige Band ist, ist natürlich eine willkommene Ausflucht.
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Ich hab das problem mit den Smiths. bzw. Morrissey. Die waren eine meiner Lieblings-Bands, aber nach dem ganzen Scheiß den der Typ geredet hat konnte ich die Musik irgendwann nicht mehr geniessen. Wenn ich heute Smiths hören will schau ich mir Johnny Marr live an.
Und (hust) Marilyn Manson. Ich war als Jugendlicher großer Fan seiner Trilogie (Antichrist Superstar, Mechanical Animals und Holy Wood) und gerade Mechanical Animals war ein Album welches mich gut 20 Jahre begleitet hat. Der Typ war immer komisch, aber nach den ganzen Anschuldigungen will ich nichts mehr von ihm hören.
Meine Goodie Mob-CD's kamen mir schon abhanden bevor die Sache mit Green bekannt wurde.
Zitat von JackOfAllTrades im Beitrag #5So wie Mory von Gaiman schockiert war, war es bei mir mit Win Butler. Und dennoch habe ich danach das letzte Album noch gehört. Aber trotzdem dachte ich oft: Ist das richtig oder sollte ich Arcade Fire nun ignorieren?
Ich ignoriere Arcade Fire. Das liegt aber eher dran dass ich nach der "Reflektor" nichts mehr so richtig gut fand. Win Butlers schmierige Art hat das ganze dann nur noch besiegelt.
Bei der nachträglichen Verdammung hab ich immer das Problem, dass dabei auch(!) ein bisschen "Sich selber besser fühlen" mitschwingt. So nach dem Motto: "Ich muss wohl ein guter Mensch sein, wenn ich diese Person für das und das verachte".
Wie unsauber das ganze letztlich ist, ist mir letzthin klar geworden, als ich in der Nachlese zur hiesigen Ausstellung über die Flucht und Internierung von Surrealisten während der Nazizeit von irgendeinem dieser Künstler (Name vergessen) gelesen hatte, dass bei diesem Menschen (wohl begründete) pädophile Vorwürfe im Raum standen. Da stehe ich nun vor der Zwickmühle, dass ich "zu diesem Menschen halte", weil er vor den Nazis (wegen seiner antifaschistischen Haltung) fliehen muss, und zum anderen "gegen diesen Menschen bin", weil er wohl Kinderschänder ist.
Die einzelnen Aspekte der Menschen muss ich halt wohl doch in gewisser Trennung betrachten. Und das gilt letztlich auch für die Werke des Künstler X versus persönliche Eigenschaften der Person X.
Zitat von fanwander im Beitrag #10Und das gilt letztlich auch für die Werke des Künstler X versus persönliche Eigenschaften der Person X.
Das kommt dann darauf an, wieviel persönliche Eigenschaften ins Werk hineinreichen. Habe große Probleme, mir beispielsweise ein Liebeslied eines verurteilten Vergewaltigers anzuhören, weil das dann einen sehr ekligen Beigeschmack bekommt. Interessant auch, daß manche gesicherte Sachen den Ruf eines Künstlers unangetastet lassen. Es ist beispielsweise seit Jahr und Tag bekannt, daß Allen Ginsberg ein ziemlich übler Päderast war, aber das interessiert offensichtlich niemanden.
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Zitat von King Bronkowitz im Beitrag #11Das kommt dann darauf an, wieviel persönliche Eigenschaften ins Werk hineinreichen.
Das ganz sicher.
Zitat von King Bronkowitz im Beitrag #11Es ist beispielsweise seit Jahr und Tag bekannt, daß Allen Ginsberg ein ziemlich übler Päderast war, aber das interessiert offensichtlich niemanden.
Reichte Ginsbergs sexuelle Orientierung in sein Werk hinein? (Ich kenne nix von dem) Und: Interessiert es Dich?
Ich fand "Howl" vor 25 Jahren ziemlich großartig, und es steht jetzt noch hier herum. Sie reicht vielleicht nicht hinein, aber diese ganze NAMBLA - Geschichte ist schon ziemlich ekelhaft.
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Zitat von King Bronkowitz im Beitrag #11 Interessant auch, daß manche gesicherte Sachen den Ruf eines Künstlers unangetastet lassen. Es ist beispielsweise seit Jahr und Tag bekannt, daß Allen Ginsberg ein ziemlich übler Päderast war, aber das interessiert offensichtlich niemanden.
Tja, Michael Jackson?
Im Falle von Morrissey hat sich bei mir so eine Abneigung entwickelt, dass ich nicht mal mehr die Smiths hören will. Mit Kanye West geht es mir ähnlich. Aber wo zieht man die eigene rote Linie? Arschlochverhalten gibt es in der Kunstbranche leider ja zur Genüge. So manch egozentrisches, rücksichtsloses Verhalten anderen Menschen gegenüber ist eigentlich schon schlimm genug, dass man es nicht dulden möchte.
Mir würde es ja weniger darum gehen, zu rechtfertigen, warum ich welche Kunst auch immer genießen kann, obwohl UrheberIn eine furchtbare Person war, die furchtbares verbrochen hat. Es fühlt sich oftmals nicht gut an. Ich weiß nicht, wie ich bspw. mit Gaimann's Werk in Zukunft umgehen werde. Jetzt gerade ist es mir unangenehm, weil ich so enttäuscht bin. Bei Michael Jackson ist das etwas anders, weil ich ihn nie für eine sypathische Person gehalten habe, selbst vor den Vorwürfern nicht. Auch seine Musik kann ich nicht genießen, wie ich es vorher konnte, aber ich finde einiges immer noch großartig. "PYT (Pretty Young Thing) bleibt mir trotzdem im Halse stecken.
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