"Im 19. Jahrhundert wurde noch stark improvisiert. Der klassische Gesangstil der Kastratenstimmen (mit liegendem, ruhigem Atem) war ungeduldig aufgegeben worden. Damit war der Vorrang der Stimme dahin, der Stimmenträger wurde Teil des Orchesters, ein Symphoniker. Später wurde, zur Wiederherstellung des Einzigartigen, des aus der Symphonie Hinausweisenden, nach Glanzstimmen und Stimmstärke gesucht. Richard Wagner adelte , in Kontrast dazu, den notenunkundigen Laien, den naiven Stimmgewaltigen. Im 20. Jahrhundert aber entwickelten sich vor allem in den Ausbildungsstätten der beiden Supermächte die Großen Gesangsmaschinen. Eine mit letztem Einsatz gesungene Stimme konnte Trommelfelle zerstören, ja das Hirn durch Einsatz der Resonanz auf kürzestem Abstand unwiederbringlich zerstören. Die entschlossene Stimme tötet."
"In seinen Tischgesprächen weist A. Hitler daraufhin, wie falsch es sei, die Stimmausbildung oder den Autobahnbau von der sogenannten Bedarfsfrage abhängig zu machen. Man habe ihm mitgeteilt, sagte er, es seien genug Wagner-Tenöre vorhanden. Doch dann habe sich gezeigt, wie groß der Engpass überhaupt sei. Man komme jetzt, 1942, im Krieg gar nicht nach mit der Ausbildung gewaltiger Stimmen. Und dies betreffe nur Wagner, man müsse auch an die Musik denken, die man nach dem Endsieg benötige. In welcher Stimmstärke werde man ausgebildet sein müssen, um die gewaltigen Denkmäler für die gefallenen Soldaten im Osten mit Tönen auszufüllen. Ob die menschliche Stimme auch als ultimative Waffe in Betracht komme, über Verstärker die Willenskraft des Gegners zertrümmernd, sozusagen die Wirkung der Luftwaffe und der Artillerie aus dem Geiste der Musik verstärkend, das könne er im Augenblick nicht beurteilen. Er habe aber den Eindruck, dass die menschliche Entwicklung, die uns jetzt von der Tierwelt trenne, zugleich aber auch von Sagen und Künsten, die früher den Götterhimmel erfüllten, Gesängen, Sturmliedern usw., noch keineswegs abgeschlossen sei. Gerade die Technik multipliziere die menschliche Willenskraft ins Unglaubliche. Er rechne es den großen Künstlern hoch an, dass sie mit der Stärke ihrer Stimme einen Menschen in Stücke schlagen, ein Hirn erschüttern oder zersetzen könnten, da dies aber (selbst im Zorn, selbst aus leidenschaftlichen Spiel heraus, dass das sie auf der Bühne vollbrächten) noch nie getan hätten. Insofern, sagte der Führer, sei Musik grundsätzlich sanft." (Alexander Kluge)
"Man kann sich leicht vorstellen, wie die deutschen Offiziere und Soldaten im kalten Winter 1942/43 in den Schützengräben von Stalingrad dieser Aufnahme lauschten. Gibt es nicht eine verblüffende Übereinstimmung zwischen dem Thema der Winterreise und diesem spezifischen historischen Moment? War nicht der Stalingradfeldzug eine gewaltige Winterreise, bei der jeder deutsche Soldat die ersten Zeilen des Zyklus auf sich beziehen konnte: 'Fremd bin ich eingezogen, / Fremd zieh ich wieder aus'? Geben die folgenden Zeilen nicht ihre Grunderfahrung wieder: 'Nun ist die Welt so trübe, / Der Weg gehüllt in Schnee./ Ich kann zu meiner Reise nicht wählen mit der Zeit:/ Muss selbst den Weg mir weisen/In dieser Dunkelheit'? " (Slavoy Zizek)
Die Titelfigur, der Holländer, ist ein ehemaliger Schiffskapitän, der sein Seelenheil vergab, um trotz eines heftigen Sturms die Umschiffung des Kaps der Guten Hoffnung zu bewältigen. Zur Strafe muss er die Meere bis zum Jüngsten Tag durchqueren, es sei denn, ein junges Mädchen rette ihn anlässlich einer der nur alle sieben Jahre möglichen Landungen durch eine unverbrüchlichen Liebe bis in den Tod. Zum Schluss wirft sich die "richtige Frau" ins Hafenwasser, um sich und ihren Geliebten zu erlösen. Das ist ganz ähnlich bei Eva Braun, die nach Berlin kommt, um mit ihren Geliebten gemeinsam zu sterben. Wie kann man damit umgehen? Zum Beispiel in der Inszenierung des "Fliegenden Holländers" von Peter Konwitschny sprengt Senta mit einem Pulverfass, die ganze Gemeinde, sich selbst und die Erlösungsidee in die Luft.
Im März 1945 war die Metropole Wien von sowjetischen Stoßtruppen umstellt. Nur nach Norden und Nordwesten bestand noch Landverbindung zum Reich. In diesem Moment befahl der Gauleiter und Reichsverteidigungs-Kommissar Baldur von Schirach, Herrscher der Stadt, eine letzte Festaufführung der "Götterdämmerung". In aussichtsloser Lage der Stadt und des Reiches sollte die von Richard Wagner komponierte Verzweiflung der Nibelungen (aber auch die in den Schlussakkorden enthaltene Hoffnung auf Wiederkehr) noch über alle Sender des Südostens übertragen werden, sofern diese in deutscher Hand waren. "Wenn schon das Reich untergeht, muss die Musik doch bleiben."
"Seit März hatte das Kollektiv des Kirow-Theaters in Leningrad 'Lohengrin' geprobt. Die Premiere sollte die Speerspitze der Sommersaison 1941 sein und den Werktätigen demonstrativ den Dank des Theaterkollektivs übertragen. Wie man weiß, brachen die deutschen Truppen in den frühen Morgenstunden jenes Tages ohne Kriegserklärung über die sowjetischen Grenzen. Die motorisierten Truppen kreisten den Tag über die sowjetischen Grenzstreitkräfte ein. Der Rundfunk erwies sich als das wesentliche Verbindungselement zwischen den Menschen des großen sowjetischen Reiches. Die träge dahinziehende, zugleich zarte Musik der Streicher und das Getrappel der Ballettschuhe auf dem Bühnenboden schienen von einer 'werktätigen realistischen Parteilichkeit'. Ein passender Abend für den Kriegsanfang, den hier niemand gewollt hatte. Das Publikum, im wesentlichen Betriebsangehörige, Parteileute, auch einige Militärs, schien froh und getröstet beieinander zu sein. Die Orchestermitglieder wurden noch in derselben Nacht zu einer Sondereinheit bewaffnet und zur Front in Marsch gesetzt. Die Oper wurde geschlossen. Innerhalb einer Stunde wurde alles für den Kampf nicht unmittelbar Erforderliche abgestellt. Mit der sozialistischen Generosität war es vorbei. Es schien Antonow aber ein Zeichen des künftigen Sieges, dass der Krieg nicht sofort alles und jeden in Freund und Feind aufzuspalten vermag, sondern wenigstens für kurze Zeit ein besonderes Unterscheidungsvermögen erarbeitet werden konnte, das für einen Abend ins Leben trat: ein Raum zwischen Aggression und Kunst." (Alexander Kluge)
- "Lohengrin" ist eine Ritteroper mit einem übersinnlichen Helden. Es geht um die Phantasie einer jungen Germanin. Am Schluss eine Art Parteitag der deutschen Ritter unter Vorsitz ihres Kaisers. Chor, Sänger und Orchester sind kollektiv eingesetzt und eigentlich untrennbar. - Würden Sie sagen, das ist ein sozialistisches Stück? - Nein. - Ist Richard Wagner als Faschist zu bezeichnen? - Nein. - Als klassenkämpferischer Bourgeois, als Revolutionär? - In seiner Jugend. - Besteht ein deutlicher Unterschied zwischen Hitler und Richard Wagner? - Ein Generationsunterschied. - Bleibt die Oper verständlich, wenn man sie halbiert oder kürzt? - Verständlich ist sie im strengen Sinn nicht. - Mehr schöne Musik? - Schöne Musik, "unirdisch". - Man wird improvisieren müssen. - (Opernleiter schweigt.)
Die Beziehung zwischen dem Nazi - Regime und der klassischen Musik ist äußerst umstritten. Der eigenwillige slowenische Philosoph Slavoy Zizek äußert sich über Bach, Schubert oder Wagner in seiner typischen provokativen Art, indem er die Problematik der deutschen Hochkultur offenlegt und konkret "das Paradox" benennt, "dass die moderne Barbarei auf intuitive, vielleicht notwendige Weise eben dem Innersten und dem eigentlichen Schauplatz der humanistischen Kultur entsprang."
"Sporadisch informierten die Nazis nun den Kulturbund über die Werke, deren Aufführungen Juden nicht mehr gestattet war. Auf dem Theater waren deutsche Sagenstoffe, Bühnenwerke aus dem deutschen Mittelalter und der deutschen Romantik untersagt. Eine Zeitlang war die klassische Periode zugelassen, aber Schiller wurde 1934 verboten und Goethe 1936. Von ausländischen Dichtern war Shakespeare erlaubt, aber Hamlets Monolog - 'Sein oder nicht sein' - war verboten: Auf einem jüdischen Theater im Dritten Reich hätten die Worte 'Des Mächt'gen Druck, des Stolzen Misshandlungen' subversiv klingen können, und daher führten sie zum Ausschluss der ganzen Rede. Selbstverständlich durften die Werke von Richard Wagner und Richard Strauss trotz der Anhänglichkeit deutscher Juden an die Stücke dieser Komponisten nicht von Juden aufgeführt werden. Beethoven wurde ihnen 1937 verboten, Mozart hingegen musste bis zum darauffolgenden Jahr, als der Anschluss stattgefunden hatte, warten. "
"Es gibt Bariton-Opern, Tenor-Opern, Sopran-Opern, Alt-Opern und Bass-Opern. Die Unterscheidung zwischen komisch und tragisch dagegen ergibt keine Genres. In der Überzahl sind die Bariton-Opern. Ein Bariton kämpft für seine Tochter und verursacht dadurch ihren Tod (Rigoletto, Emilia Galotti). Ein Bariton kämpft für den Tenor und tötet dadurch den Sopran (La Traviata). Ein Bariton von besonderem Eigensinn kämpft aus zurückliegendem Anlaß und ohne Provokation in der vordergründigen Handlung gegen jedermann und verursacht multiple Todesfälle (Troubadour, Ernani). Ein Bass tötet grundsätzlich seine Gegner. Dies geschieht z. B. durch Wotan oder den Großinquisitor in Don Carlos. Es ist mir keine Ausnahme bekannt. Als ob Mordlust durch die Tiefe der menschlichen Stimme zunähme. Demgegenüber erscheinen die Soprane bedroht, selbst dort, wo sie nicht singen (Die Stumme von Portici). Gegenüber der Opfermasse an Sopranen (von 86 000 Opern enden 64 000 mit dem Tod des Soprans) ist die Opferung von Tenören gering (von 86 000 Opern 1 143 Tenor-Totalverluste). Die tödliche Konsequenz scheint an den Stimmlagen orientiert."
"Die Erbin Wagners, eine Ur-Ur-Enklin, die Bayreuth übernahm, griff, auch angesichts des Projekts der Buddha-Oper Richard Wagners, auf das Konzept zurück und orderte 27 Opern, die vom Paradigma der Bariton- und Bass-Opern abstrahieren. Wie will man anders einen Luftangriff, ein Genozid, einen Mülltod komponieren, und zwar in der hoffnungsreichen Art des Schlußauftritts der Götterdämmerung, sagte die Tochter von Nike Wagner, auf die die Wahl fiel."
der thread ist auf seite 6, das soll nicht sein. und sowieso soll man mehr klassische musik hören. in dem sinn:
es soll um ein album gehen, das letzte woche erschienen ist und mich vom ersten moment an dermassen angefixt hat, dass ich gerade wenig anderes höre. das war zu erwarten, aber trotzdem möchte ich es teilen.
igor levit ist kein geheimtipp. nun wirklich nicht. und sogar diejenigen, die ihn vor 2020 nicht kannten, werden wahrscheinlich von seinen hauskonzerten mitbekommen haben. das war eine art geniestreich, schön den weltweiten lockdown nutzen, um jeden abend aus der eigenen wohnung zu streamen. man könnte von taktik reden, wenn man ihm nicht glauben würde, dass es ihm wirklich "einfach ein bedürfnis ist, zu spielen". auf jeden fall waren diese hauskonzerte ein erlebnis. mal nur zehn minuten, mal über eine stunde, jeden tag für 50 tage. wunderbare musik von einem der ganz grossen pianisten. der sich übrigens auch nicht zu schade ist, sich offen politisch zu positionieren, auf der richtigen seite, was ihn in seinem umfeld wohl nicht nur fans bringt, aber ich sehe es als bonus.
nun also encounter, ein album "inspiriert" von den hauskonzerten. encounter kann man da wohl auf verschiedene arten interpretieren, man liest vom zusammentreffen der hörer*innen und künstler*innen über digitale kanäle. man schaut sich aber auch die tracklist an und sieht, dass es beinahe ausschliesslich transkriptionen sind und dementsprechend auch ein zusammentreffen von komponisten. die ersten 10 zum beispiel, choralvorspiele von johann sebastian bach (eigentlich für orgel komponiert), transkribiert von ferrucio busoni für klavier, gespielt von levit, quasi die heilige dreifaltigkeit. kann man sich das ungefähr so vorstellen: wer schon einmal bei einem gottesdienst war, weiss, da wird gesungen. choräle, meistens, die stehen im kirchengesangsbuch und einige der melodien sind bekannt. ich würde ganz frech davon ausgehen, dass zu bachs zeiten noch mehr der melodien bekannt waren. trotzdem beginnt das publikum nicht spontan, zu singen, sondern es gibt ein choralvorspiel. gibt es auch heute noch, meistens ein unmotiviert dahingeplätschertes zweitaktiges intro, aber je nach einfallsreichtum und/oder fingerfertigkeit der person an der orgel kann das etwas ausgedehnt sein. nun gibt es komponisten wie bach, die bei chorälen komplett abgehen (man höre sich beispielsweise die kantaten oder passionen an). und nur logischerweise schreiben solche leute dann auch etwas ausgedehntere choralvorspiele, kleine kunstwerke voller ideen und emotion. bach war ja in vielem meister aber ganz besonders war er ein meister der polyphonie und der melodieführung. das hört man hier wunderbar raus, diese vorspiele sind bis zu sechsstimmig und man kann tatsächlich jeder stimme "hinterherhören", nichts ist füllmaterial, alles hat genau seinen platz. nun ist es um einiges einfacher, auf der orgel mit zwei händen und zwei füssen (plus registerwahl) sechsstimmigkeit zu zeigen, als auf dem klavier. enter busoni. busoni hat diese choralvorspiele für klavier umgeschrieben, nicht unbedingt als zeichen der ganz grossen virtuosität, sondern um (nach eigenen angaben) die musik einem grösseren publikum zugänglich zu machen. ebenfalls nach eigenen angaben steht in den noten ganz zu beginn, diese stücke würden den pianisten nie komplett fordern, mit ausnahme des anschlags, welchen es meisterhaft zu beherrschen gälte. das ergibt sinn, wenn man sechs stimmen heraushören soll, muss man relativ gut gewichten können, wo es laut und wo eher leise sein soll. es gilt, jede stimme so zu spielen, wie sie gedacht ist und dazu die eigentliche choralmelodie hervorzuheben, ohne dass es gehämmert klingt. enter levit. was igor levit mit diesen choralvorspielen macht, ist schlicht und ergreifend phänomenal. er spielt es nicht eben barock, dafür sind zu oft spontane tempowechsel und verzögerungen drin, aber hey, busoni hat ende 19. jahrhundert bis anfang 20. jahrhundert gelebt, da schauen wir also mal locker darüber hinweg. und sowieso: wer kann noch rational argumentieren bei dem mass an emotion, was einem da entgegenkommt. das ist tief religiöse musik, die aber (und ich spreche hier aus erfahrung) auch dem geneigten atheisten tränen der rührung entlockt. sehr ernsthaft, sehr berührend, wunderschön.
das sind die ersten zehn tracks. danach liegt man flach atmend auf dem rücken, aber es geht weiter. brahms-transkriptionen, ebenfalls von busoni. und dann reger. max reger ist auch so ein frechdachs, was die harmonielehre angeht. meiner meinung nach sträflich unterschätzt, bzw zu wenig gehört. harmonien, die eigentlich reiben, aber sich dann in so einem unfassbar schönen mass auflösen, dass einen ströme der glückseligkeit davontragen und man vor dankbarkeit um solche musik eigentlich nicht mehr richtig weiter weiss. max reger ist unter anderem bekannt für wirklich traumhaft schöne arrangements für chor (oder doch eher ensemble, man kann sich nicht so richtig vorstellen, wie so etwas zartes von einem opernchor geschmettert wird. oder man will es sich nicht vorstellen). beispiel: nachtlied. eine fromme bitte um ruhigen schlaf und ein gesundes erwachen. ok, man bittet mal wieder gott, aber auch da schauen wir drüber hinweg, weil es wirklich ganz wunderbar ist. wie bereits erwähnt, harmonisch ist das frech. und so gelungen.
vom nachtlied gibt es eine transkription für klavier, das zweitletzte stück auf dem album. danach ist eigentlich alles gesagt. denkt man. levit geht noch etwas weiter, mit einem kleinen stück über eine knappe halbe stunde, das herrlich hingetropfte palais de mari von morton feldman. danach ist ruhe, aber man will direkt wieder anfangen.
das ist ein grosses und zugegebenermassen schwieriges feld, weil man eine relativ weite skala von "so atonal wie es nur irgend geht, damit auch ja alle beteiligten ueberfordert sind" bis "seichteste zweistimmigkeit ohne jede reibung" beackern muss, um sich sachen herauszupicken, die gefallen.
ganz klar auf der hoerbaren seite der skala, manchmal sehr hart an der grenze zum kitsch, ist der norweger ola gjeilo. der ist noch ziemlich jung, also knapp ueber vierzig (und ja, ich muss im hinblick auf meine zukunft jetzt von knapp ueber vierzigjaehrigen schon mal schreiben, sie seien noch ziemlich jung) und man merkt bei manchen stuecken deutlich die popkultur, die da wohl in seine musikalische ausbildung reingespielt hat. irgendwas ist es auch mit diesen skandinaviern, dass ihre vokalsachen einen spezifischen touch haben, irgendwas, das man hautpsaechlich bei nordischen musiker*innen hoert. ich schliesse jetzt arvo paert einfach mal mit ein. aber von paert kann man ja spaeter mal reden, das sprengt sonst hier den rahmen. wie auch immer, gjeilo. relativ jung. norweger und er spielt gerne mit gregorianisch angehauchten themen, die er dann entwickelt. ganz kurz als hoerprobe, es soll ja um zeitgenoessische musik gehen und gregorianik ist so ungefaehr das gegenteil, aber damit man sich da ein bild machen kann, es gibt einen gregorianischen choral, ubi caritas ("ubi caritas et amor deus ibi est" - wo guete ist und liebe, da ist gott. es erstaunt wohl nicht, dass moenchsgesaenge eine religioese komponente haben.):
gjeilo hat auch ein ubi caritas geschrieben. er uebernimmt das gregorianische thema nicht so, wie es geschrieben wurde (durufle hat das gemacht in einem ganz wunderbaren stueck. aber es soll ja um zeitgenoessische musik gehen), aber man hoert die referenz. und dann macht er wirklich schoene mehrstimmigkeit daraus:
ebenfalls an gregorianische themen angelehnt ist dann "o magnum mysterium" von morten lauridsen. auch wenn der name nordisch klingt, ist er amerikaner, etwas aelter als gjeilo und fast ausschliesslich mit vokalmusik unterwegs. auch lauridsen neigt zum schwulst, aber deutlich weniger als gjeilo (soll heissen, man muss nicht so aufpassen, was man von ihm hoert, das ist alles schoen). o magnum mysterium ist teil eines religioesen lied/motettenzirkels und grossartig. sofern der chor passt. hier passt er:
und damit wir zum schluss mal noch vom religioesen wegkommen, lauridsen hat auch einen liedzirkel geschrieben, wo er von rilke inspiriert war, les chansons des roses. 5 stuecke, hier das fuenfte.
das ist dann schon sehr suess, aber mich erreicht es. hat vielleicht mit meiner chorvergangenheit zu tun.
mal wieder etwas klassische musik. 2020 ist ja neben covid und anderen ärgernissen auch - und das ist schön - beethoven-jahr. man feiert den 250 geburtstag und obwohl solche jubiläen immer etwas artifiziell sind, ist es eine gute gelegenheit, etwas mehr beethoven zu hören. kommt dazu, dass zu solchen runden feiern dann auch die eine oder andere neue aufnahme erscheint.
konkret soll es um die 6. symphonie gehen. beethoven hat die ungefähr zeitgleich mit seiner fünften geschrieben und obwohl die natürlich auch grossartig ist, lassen wir die hier jetzt mal weg, das thema kennt natürlich jeder, spätestens seit der erfindung des klingeltons (viel besser als der erste satz der fünften ist übrigens der zweite, aber eben, die fünfte lassen wir hier mal aus). die 6. symphonie also, die ist so ein bisschen programm-musik. wer werke wie vivaldis jahreszeiten kennt (ähnlich wie bei beethovens fünfter, wer kennt sie nicht), oder auch haydns jahreszeiten, haydns schöpfung, smetanas moldau, usw, wird wissen, was ich mit dem begriff meine. es ist eine vertonung eines übergeordneten themas, eben zum beispiel jahreszeiten, die schöpfungsgeschichte oder den lauf eines flusses. in beethovens fall ist es eine eher vage naturverbundenheit, die einzelnen sätze tragen zwar etwas konkretere titel, aber er bleibt weit weg von der manchmal sehr krass eindeutigen musikalischen zuordnung, die man beispielsweise bei haydns schöpfung findet (und die gelegentlich auch ins alberne abdriftet - was gewollt sein könnte).
beethoven bleibt also etwas ungenauer, die 5 sätze folgen aber doch einer lose erzählten geschichte oder empfindung. die symphonie trägt dann auch den beinamen "pastorale", also hirtenmusik, die sehnsucht nach dem ländlichen leben und den freuden der natur klingt da bereits im titel an. pastoralen gab's natürlich auch schon vor beethoven, gerade in der weihnachtlichen musik - wenn die weihnachtsgeschichte erzählt wird, kommen nun mal hirten vor, also bietet es sich an, das musikalisch zu präsentieren. die "klassische" (was hier nicht als epochenbegriff zu verstehen ist, weil diese beispiele aus dem barock kommen...) pastorale wird gerne mit dem einsatz von holzblasinstrumenten verziert und kommt im dreivierteltakt daher. gutes beispiel, arcangelo corellis letzter satz aus dem concerto grosso nummer 6:
noch besseres beispiel, auch wenn nicht direkt pastorale im titel steht: die symphonie im zweiten teil von bachs weihnachtsoratorium (noch besser nur deshalb, weil bach immer besser ist) :
beethoven übernimmt den dreivierteltakt nicht wirklich, bzw nur im fünften satz. was er aber übernimmt, ist den "frommen" klang, die verklärung der natur und des landlebens. das ist dann wohl auch schon zu seiner zeit die sicht des städters auf das einfachere, schöne leben. ganz ohne donner geht es natürlich nicht und das ist auch tatsächlich wörtlich zu nehmen, die symphonie baut sich über ankunft auf dem land, szenen am bach und dem treffen einer landkapelle auf zu einem gewitter, wo es dann mal ordentlich knallt, um schlussendlich im ordnungsgemässen dreivierteltakt in einem hirtengesang und der dankbarkeit, dass der sturm überwunden ist, aufzuhören. die symphonie ist zu wirklich grossen teilen wohlklang, da ist sehr wenig dissonant. trotzdem (oder deswegen, ist auch immer etwas stimmungsabhängig) ist es jedes mal wieder eine grosse entdeckungsreise, da stecken zu viele details drin, um sie hier alle auszubreiten, aber es macht einfach glücklich, sie herauszuhören.
als beispiel hier den ersten satz, einmal in der aufnahme von harnoncourt:
und einmal in der brandneuen aufnahme der akademie für alte musik berlin:
zweitere ist ca 3 minuten schneller und wirkt trotzdem nicht gehetzt, im gegenteil, ich ziehe die auf jeden fall vor, da ist einfach mehr verspieltheit und man hört bereits die "tanzeinlagen" des dritten satzes heraus. ich finde auch, dass kurze motive wie die 9 triolen (bzw 3 triolen, ihr versteht schon) der bläser als antwort auf die etwas langezogenen streicher bei dem höheren tempo einfach besser kommen. ist natürlich geschmackssache, da gibt es kein richtig oder falsch. hauptsache, man hört es überhaupt, immer wieder.