ist ja schon wieder eine weile her hier. das ist ein stück musik, das mir mehr als sehr viele andere am herzen liegt, also könnte es nun emotional werden:
Dieterich Buxtehude - Membra Jesu Nostri
buxtehude ist wohl einer der deutschen komponisten der pre-bach-ära, den man noch so einigermassen auf dem schirm hat (zu recht natürlich. bzw sollten noch viel mehr leute ihn auf dem schirm haben). seine orgelwerke vielleicht am ehesten, aber schon auch die vokalmusik. und membra jesu nostri hat da einen prominenten platz, es wird relativ häufig aufgeführt, relativ häufig aufgenommen und (hoffentlich) relativ häufig gehört. worum geht es? wie der name vermuten lässt, werden die körperteile jesu besungen, genauer, die körperteile des gekreuzigten jesu. nun kann man natürlich mit recht diskutieren, was es über eine religion aussagt, sich als das grosse symbol den an holz genagelten märtyrer auszusuchen, der zwar mit seinem tod die sünde der welt auf sich nimmt, gleichzeitig damit aber natürlich auch allen nachkommen eine nicht einlösbare schuld aufbürdet. aber darum soll es hier gar niht gehen, fakt ist nunmal, dass die martialische passionsgeschichte grandiosen musicalstoff hergibt. siehe bachs passionen. siehe haydns sieben worte jesu am kreuz (sind natürlich mehr als sieben worte, der übersetzung geschuldet, es geht eher um sieben sätze. ich glaube auch, dass da deutlich mehr als sieben sätze gefallen sein dürften, aber "verdammte scheisse, tut das weh" lässt sich einigermassen schlecht auskomponieren). und eben auch membra jesu nostri. es sei noch (zum wiederholten mal) erwähnt, dass die musik dabei auch ohne religiöse überlegungen funktioniert. zumindest für mich. und obwohl die hauptaufführungszeit für die musik natürlich um ostern herum fällt, passt das hier jetzt auch ganz gut, der 2. november ist allerseelen und membra jesu nostri wird auch ganz gerne mal zum totengedenktag aufgeführt. alles im rahmen also.
buxtehude hat hier was geschaffen, das meiner meinung nach in form und wirkung unerreicht bleibt. membra jesu nostri beinhaltet sieben kantaten, jede einem körperteil gewidmet, dabei in blickrichtung des vor dem kreuz stehenden/knieenden publikums gedacht, also von unten nach oben. in der reihenfolge geht es "1. ad pedes (füsse)/ 2. ad genua (knie)/ 3. ad manus (hände)/ 4. ad latus (seite)/ 5. ad pectus (brust)/ 6. ad cor (herz)/ 7. ad faciem (gesicht)". die kantaten folgen grundsätzlich derselben form, es beginnt mit einer instrumentalen sonata, gefolgt von einem chorisch gesungenen bibelwort, drei solistisch gehaltenen arias (welche die gesangsmelodie variieren, aber in der instrumentalen begleitung quasi identisch sind) und der wiederholung des bibelworts. natürlich gibt es ausnahmen. die sind sehr gewollt eingesetzt, so erhalten zum beispiel die erste und siebte kantate etwas mehr choranteil und in der siebten wird auch das bibelwort nicht wiederholt, sondern durch ein "amen" ersetzt - man muss ja wissen, wann fertig ist. auch sonst findet man diverse details, die chorparts sind beispielsweise grundsätzlich mit sopran/sopran/alt/tenor/bass besetzt, in den kataten fünf und sechs aber, da sie quasi innere organe besingen, sind verschiedene stimmen weggelassen und auch die begleitung reduziert. harmonisch bewegen wir uns in wildem terrain. natürlich ist das - es ist ja barock - nicht atonal. aber buxtehude erzeugt durch sehr gezielt eingesetzte reibungen und dissonanzen immer wieder spannung. gute hörbeispiele dafür: der chorteil der dritten kantate, der chorteil der sechsten kantate. auch gelingt ihm das kunststück, mit (bzw trotz) sehr "starrer" form und relativ reduzierter besetzung eine vielseitigkeit und emotionalität zu schaffen, die einen jedes mal aufs neue komplett umhaut. und da verlassen wir dann auch den beschreibbaren raum dieses stücks. man kann jeden einzelnen ton und jede harmonie analysieren, auf den text eingehen, doktorarbeiten über die form verfassen. und trotzdem bleibt etwas da, was das alles umschwebt und nicht richtig zu greifen ist. gerade weil es so komplett unpassend ist, fällt mir dazu nichts anderes ein als eine stelle aus walter moers' stadt der träumenden bücher. wo es darum geht, dass diese richtig unfassbar guten bücher, diese stellen, die man immer wieder lesen will und worüber man essen, trinken und körperhygiene vergisst, diese sind, wo die autor*innen besonders stark vom "Orm" durchströmt wurden, dem grossen geist der literatur (ich hätte wohl jetzt irgendwas schlaues zitieren können, aber es ist ja genau die tatsache, dass emotionale tiefe losgelöst vom aufdiktierten anspruch funktioniert. egal.). etwas ähnliches passiert hier, das ist eine der schönsten musiken der welt. sowohl, wenn man sich bewusst macht, worum es geht, als auch komplett frei davon. es treibt einem die tränen in die augen. und darum geht es doch.
es gibt viele aufnahmen von membra jesu nostri, mehr als genug davon auf spotify und youtube. es ist etwas vorsicht geboten, man muss sich zwar richtig mühe geben, diese traumhafte musik kapputzumachen, aber es kann gelingen. wenn man sich die guten aufnahmen auf einer skala von "wohlklang hat priorität" zu "emotionalität geht vor" platziert, ist am linken ende konrad junghänel/cantur cölln zu finden, das ist schon wirklich sehr schön, aber auch etwas lahm. junghänel setzt zu beginn jeder kantate ein tempo und zieht das dann absolut konsequent durch, die instrumentierung und der gesang sind wunderbar rein, aber etwas wenig ausdrucksstark. ähnlich ist es bei the sixteen, es ist alles sehr langsam gehalten, als quasi philosophische betrachtung jedes körperteils. etwas mehr pep bringen die aufnahmen von masaaki suzuki oder sigiswald kuijken (die von suzuki ist in meiner top 3, die ist wirklich ganz grandios). noch etwas mehr auf text und aussage geht die auf youtube verfügbare aufnahme von rene jacobs (der atze schröder des barock). und auf der seite, wo vielleicht mal ein ton nicht perfekt rein ist, dafür aber der impact da, stehen aufnahmen wie die vom ricercar consort oder von jos van feldhoven - dies ist wohl meine liebste, weil es da schwebt, wo es schweben muss und da knallt, wo es knallen muss.
letzten endes gibt es da aber natürlich kein richtig und kein falsch - es zeigt nur, wie unterschiedlich diese musik interpretiert werden kann. grosser zauber.
Hiier und heute der Hinweis auf Franz Paul Lachner.
Er lebte von 1803 bis 1890 und komponierte u.a. auch acht Sinfonien.
Bekannt ist Lachner auch deshalb, weil er über Franz Schubert gesagt haben soll: „Schade, daß Schubert nicht so viel gelernt hat wie ich, sonst wäre bei seinem außerordentlichen Talent auch ein Meister aus ihm geworden.“ Lachner lehnte auch die Musik von Richard Wagner ab und geriet so komplett ins Abseits.
Bis heute gibt es von seinen Sinfonien kaum Einspielungen - manche fehlen gar noich. Einige davon kann man sich nur über Softwaredarbietungen (per Notationsprogramm/Soundkarte von privater Seite) anhören.
hier nun: Franz Lachner - Symphony No.5 in C-minor, Op.52 "Passionata" (1835)
"Good taste is the worst vice ever invented" (Edith Sitwell)
ein unqualifizierter versuch einer abhandlung über die emotionalität der musik von mozart:
das ganze ist ausgelöst durch eine diskussion, die vor sehr langer zeit stattfand, die mich aber immer mal wieder beschäftigt. es wurde damals die steile these in den raum gestellt, dass mozart ja zwar durchaus elegante, schöne, gefällige musik komponiert habe, dass die stücke aber immer etwas an der oberfläche bleiben würden, gerade im vergleich mit schwergewichten wie bach, chopin oder beethoven. ich habe vehement dagegen argumentiert und mich aber nach wie vor nicht ganz von der geschichte erholt. natürlich ist es wahr, mozart wirkt erst einmal spielerisch, auch ist seine musik sicher für ungeübte ohren zugänglicher als vieles, das bach geschrieben hat. zu grossen teilen "fehlt" ihm der knalleffekt von beethoven oder die virtuosität von chopins klavierstücken. es hilft sicherlich auch nicht, dass furchtbare menschen dinge wie rondo veneziano hervorgebracht haben, um seine musik so komplett zu verhunzen. ich empfinde es aber halt eben gerade nicht als oberflächlich, wenn jemand die musik auf ihre absolute essenz einkocht (mal davon abgesehen, dass mozart ja nun nicht minimalistisch komponiert hat). ebenso halte ich es nicht für das einzig wahre, wenn am anfang des stücks in grossbuchstaben "AUFRÜHREND" steht. oder wenn die einzig akzeptierte richtung emotionaler musik die einer fürchterlich ernsthaften komposition ist. in der tat glaube ich, dass bei mozart (der vielleicht nicht ganz der clowneske popstar war, als der er in milos formans amadeus dargestellt wird, dessen vulgäres auftreten aber schon öfter dokumentiert ist und sich auch in einigen stücken findet) der oft vorkommende schalk, die spielerei, nie einer aufrichtig empfundenen ehrfurcht vor der musik im weg steht. dass im gegenteil diese ehrfurcht, der respekt, immer durchscheint - und manchmal auch alles andere hinfortwischt. als beispiel seien die drei späten opere buffe (das ist der korrekte plural, oder?) genannt, also figaro, cosi fan tutte und don giovanni. gerade cosi fan tutte mit seinem unfassbar doof-reaktionär-bescheuerten libretto, das mozart aber mit einer musik ausstattet, die alles in (man muss das so blöd ausdrücken) höhere spähren erhebt, wer da von oberflächlicher emotionalität redet, der höre nur diesen teil, wo drei menschen zwei anderen eine gute fahrt in den krieg wünschen (und derjenige, der diesen wunsch überhaupt erst anstösst, aber weiss, dass es eigentlich alles nur ein blöder trick ist und gar niemand in den krieg fährt - die anderen beiden aber im glauben zurücklässt, dass sie hier gerade ihre heissgeliebten verlobten für immer verabschieden). die geschichte ist posse, die musik ist heiligster ernst:
oder auch die klaviersonaten. natürlich wirkt das alles verspielt. aber nehmen wir mal die sonate in f-dur (kv 332). ein unkomplizierter erster satz, ein einfaches thema, kein grosses drama, klar, das ist nicht aufrüttelnd wie beethovens pathetique. aber alleine die harmonien in der durchführung, die basslinie, die grandiose einfachheit! und mit welch reduzierten mitteln er im zweiten satz die komplette welt von allen problemen befreit und für ein paar minuten schweben lässt (im video ca ab 9:40).
und natürlich auch in der sehr bekannten a-moll-sonate (kv 310). das ist eine der dramatischeren, hier blickt im ersten satz schon mal beethoven um die ecke und nickt anerkennend mit dem kopf. aber auch hier ist es der zweite satz - f dur, die rechte hand spielt ein komisches arpeggio, die linke wiederholt den f-dur-dreiklang und geht direkt zu d-moll. es ist so simpel und so effektiv. es folgen ideen, die bei anderen für ein ganzes leben reichen, mozart verpackt sie in einem satz und schafft das kunststück, sie so zu verbinden, dass es nicht überladen wirkt, sondern im gegenteil - elegant. auch hier wieder in der aufnahme von gulda, weil besser ist schwierig.
wie auch immer, ich lasse mich gerne auf diskussionen ein, werde aber immer furios den standpunkt vertreten, dass hier eine sehr aufrichtige, tiefe emotionalität durchblickt, die sich manchmal - wie bei anderer musik auch - halt einfach nicht beim ersten hördurchgang erschliesst.
ein schulfreund meines großen sohnes stammt aus einer recht künstlerisch begabten familie (muttern war einst balletteuse, vattern hats u.a. mal zu einem bond-nebenbösewicht gebracht), und sein großer bruder hat in england komposition studiert. nun ist ein album mit seinen kompositionen erschienen, und ich bin sehr angetan. hier ein appetizer:
Jetzt dachte ich ja kurz, der Vater sei Michael Lonsdale. Aber offenbar hat der nie geheiratet.
Die letzten Sechs in der Playlist: Nieve Ella - Watch It Ache and Bleed || Dawn Richard & Spencer Zahn - Quiet In a World Full of Noise || Flip Top Head - Up Like a Weather Balloon || Haley Heyndericks - Seed of a Seed || Idles - Joy As an Act of Resistance || Wild Nothing - Indigo
Zitat von Mory im Beitrag #98Ein kleiner Ratgeber, wie man sich klassischer Musik annähern kann, sortiert nach Stimmungen.
Den finde ich übrigens gar nicht so schlecht.
http://www.last.fm/de/user/DerWaechter ehemaliger Influencer * Downtown * Radebrecht * "Die einzige Bevölkerungsgruppe, die man risikolos beleidigen kann, sind die Dummen. Da fühlt sich nie einer angegriffen." (Ronja von Rönne) “The sex and drugs have gone and now it’s just the rock ‘n’ roll” (Shaun Ryder)
ich schmeiss das auch mal hier rein... klassik ist ja nicht immer nur klavier. stockhausen hätte seine freude daran...
Available on CD (or any other format) for the first time outside USSR, Soviet composers perform their works on the legendary ANS synthesizer.
Recorded in 1969, "Электронная Музыка АНС (ANS Electronic Music)" features 6 tracks of experiments on the unique machine by: Eduard Artemiev, Stanislav Kreitchi, Sándor Kallós, and Alexander Nemtin.
A 'musical' machine unlike any other which has long fascinated cutting edge, modern electronic composers, notably COIL and THE ANTI GROUP COMMUNICATIONS (TAGC) / CLOCK DVA, that have both released recordings utilising the ANS.
Try to imagine a score sounding by itself without a conductor; an orchestra without musical instruments. This magic is possible by using the musical ANS synthesizer Created by Soviet scientist Evgeny Murzin over the course of 20 years, ANS is an instrument with which a composer can not only create but also draw their music without notes. You can see the twinkling of different lamps, the rotation of grooved glass discs... The drawings on the glass are 'sounding notes'. To listen to the drawn picture, press the button and a wonderful transformation will begin.
Inside the ANS are five rotating glass discs with 144 tones printed (by hand) on each one. Light is projected through the discs and onto photovoltaic cellbank which converts the light into electricity and sends signals to the ANS's amplifiers and bandpass filters. The ANS can generate 720 tones this way and, unlike a human musician, play them all at the same time.
Murzin dedicated his photoelectronic apparatus to Alexander Nikolayevich Scriabin, hence the name ANS. Scriabin, the creator of the 'Poem of Ecstasy', and a famous explorer of synesthesia, used in his works a highly chromatic, new type of harmonic style designed to express his beliefs, views and wishes. Soviet music lovers will already know recordings made on ANS from Tarkovsky's films Solaris, The Mirror, and Stalker, Konchalovsky's film Siberiade, and others.
Presented in a digipak with the new artwork by Abby Helasdottir, complimenting the ANS process perfectly.
Officially licensed from Russian state label Melodiya.