Der Duden gibt dir auf jeden Fall recht. Ich glaube, „Ich wäre beinahe in einen Baum gefahren“ heißt, du bist fast aber eben doch nicht in den Baum gefahren „Ich bin beinahe zwei Meter groß“ würde für mich implizieren, dass ich durchaus groß bin, aber eben nur etwas weniger als zwei Meter. „Ich bin beinahe in einen Baum gefahren“ klingt dagegen für meine Ohren eher umgangssprachlich unpräzise, denn ich BIN ja nicht in den Baum gefahren, auch nicht teilweise. So würde ich den Unterschied verstehen, habe dafür aber keine richtig sinnvollen Belege.
das klingt für mich plausibel; diese logik hat vermutlich unterschwellig meinen satz geformt. eine weitere möglichkeit wäre die differenzierung zwischen der tat und dem ergebnis - ich habe ja in meinem szenario nicht mal ansatzweise das steuer verrissen. wäre ich aber von der fahrbahn abgekommen, und hätte nur knapp den baum verfehlt, griffe möglicherweise das "bin".
was mich wirklich aufregt, ist diese kijimea-werbung, die immer vor der tagesschau läuft. also, ganz grundsätzlich, weil doof. aber auch spezifisch die aussage "meine darmbeschwerden sind wie weg". also sind sie eigentlich nicht weg? da wollte doch jemand "wie weggeblasen", dann meinte jemand anderes "weggeblasen ist im zusammenhang mit blähungen nicht ideal" und statt einfach "weg" heisst es jetzt "wie weg"?
wie auch immer, ich ärgere mich darüber. es ist wie mühsam.
Aus dem heutigen Hauptstadtradar-Newsletter von RND:
ZitatKürzlich fragte mich eine Freundin, was eigentlich das Wort Narrativ bedeute. Ich musste mich kurz besinnen. Dann sagte ich so etwas wie: „die immer wieder kehrende Erzählung eines Sachverhalts, die mit einer bestimmten Interpretation dieses Sachverhalts einhergeht“. Das klingt kompliziert, trifft die Sache aber vielleicht. Da wäre zum Beispiel das Narrativ vom dominierenden Rechtsextremismus in Ostdeutschland, mit dem eingeschliffene Deutungen längst untrennbar verbunden sind: die Wirkung der SED-Diktatur etwa oder die mangelnde Erfahrung des Zusammenlebens mit Migranten – sei es nun zu Recht oder zu Unrecht. Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz (CDU), nannte diesen Zusammenhang: „diktatursozialisiert“.
Tatsächlich verbarg sich hinter der Frage der Freundin nach der Bedeutung des Wortes Narrativ eine Kritik – die Kritik an Wörtern, die schwer verständlich sind und bisweilen leicht durch andere Wörter ersetzbar wären. Hier sind wir, wie man früher gesagt hätte, bei des Pudels Kern. Politik ist ja zu großen Teilen Kommunikation, in Wahlkampfzeiten zu fast 100 Prozent. Kommunikation wiederum besteht überwiegend aus Sprache. Sprache ist ihrerseits Kommunikationsmittel. Sie soll dazu dienen, einander verständlich zu machen – eigentlich. Denn sie ist auch soziales Distinktionsmittel: ein Instrument zur Unterscheidung. ¬
Der Sprechende markiert absichtlich oder unabsichtlich, welchem sozialen Milieu er angehört oder angehören will. Dort will er verstanden werden, in den anderen Milieus im Zweifel nicht. In akademischen Kreisen sagt man deshalb nicht „gemein“ – auch weil das „Du bist gemein!“ zu sehr nach Kindergarten klingt. Man sagt: „perfide“. Das mit der Distinktion wird langsam zum Problem. Vor allem Linksliberale beklagen ja gern die Spaltung der Gesellschaft. Sie tragen sprachlich gesehen aber oft tüchtig zu dieser Spaltung bei. Wenn sie vielfältig sagen wollen, sagen sie „divers“. Wenn sie fremdenfeindlich sagen wollen, sagen sie „xenophob“. Wenn sie frauenfeindlich sagen wollen, sagen sie „misogyn“. Und wenn sie verletzlich sagen wollen, sagen sie „vulnerabel“. Wer so spricht, der will unter sich bleiben. So werden Wörter zu Codewörtern.
In die alle weltanschaulichen Lager umfassende politische Klasse haben sich parteiübergreifend weitere Codewörter eingeschlichen. Das Wort „Spin“ gehört dazu; gemeint ist die gezielte Verbreitung einer Information mit einer bestimmten Interpretation. Die Vokabel „Game Changer“ ist ebenfalls beliebt. Hier handelt es sich um ein Ereignis, das eine Wende bringt – so wie die Entwicklung eines Impfstoffs in der Corona-Pandemie. Zur Insidersprache des Regierungsviertels zählt auch die Formulierung: „ein Thema spielen“. Das Thema selbst ist total wurscht, es geht darum, es in einer bestimmten Phase einer politischen Auseinandersetzung zu einem bestimmten Zweck einzusetzen – wie beim Spiel. Die Reihe ließe sich fortsetzen.
So ist das Wort „Framing“ stark im Kommen. „Framing“ kommt von Rahmen und bedeutet laut Wikipedia, „dass unterschiedliche Formulierungen einer Botschaft – bei gleichem Inhalt – das Verhalten des Empfängers unterschiedlich beeinflussen“. Dabei gilt die Faustformel: Das eigene Framing ist richtig, das der anderen falsch. Es ist ein Kampfbegriff.
Zwischen all diesen verletzlichen Erzählungen – sorry, vulnerablen Narrativen – kommt das Ziel der Verständigung zunehmend unter die Räder. Ziel wird die soziale Unterscheidung – die Distinktion. Eine Ausnahme machte da zuletzt Annalena Baerbock. Ihre fehlenden oder teils mangelhaften Angaben zu Gehalt und Lebenslauf nannte die Grünen-Kanzlerkandidatin schlicht und ergreifend „Mist“. Da wusste gleich jeder, was gemeint ist.
Das würde ich am liebsten in Großbuchstaben unterschreiben und dreimal unterstreichen. Für mich ist das nämlich ein großes Frustthema, denn es führt dazu, dass Menschen, die eigentlich in ihren Ansichten gar nicht weit auseinanderliegen, konsequent aneinander vorbeireden. Und ich sehe das auch als einen Grund für den Niedergang der SPD, bei der es inzwischen kaum einen maßgeblichen Politiker mehr gibt, der willens oder in der Lage ist, die Sprache der eigenen Stammwähler zu sprechen - die Grünen trifft das wesentlich weniger. Die bayerische SPD hat sich natürlich auch wieder jemanden als neuen Vorsitzenden ausgesucht, der nicht den Hauch eines bairischen (oder wenigstens fränkischen) Zungenschlags hat. Bei den Wählern dürfte all das zusammen durchaus als Verachtung rüberkommen. Jedenfalls bei mir.
Dem kann ich leider nicht so richtig zustimmen. Allein der Text wählt Beispiele, in denen die Fachbegriffe eben nicht nur Synonyme sind. Beim „Narrativ“ meint man eben keine Erzählung wie Hänsel und Gretel, sondern es sind bestimmte Erzählungen, die sich oft unausgesprochen hinter einer Formulierung oder ähnlichem verbergen. Mit „Diversität“ meint man nicht Kraut und Rüben, sondern Vielfalt im Bezug auf menschliche Biographien. Sprache vereinfachen ist in vielen Fällen sinnvoll, und ein elaborierter Sprachcodes kann auch etwas verschleiern, anstatt etwas zu verdeutlichen - so weit, so richtig. Aber aus einer gewählten Ausdrucksweise gleich eine Die-da-oben-Erzählung zu stricken, da gehe ich nicht mit.
☟ smog in berlin. nichts wie hin. weil du mich küsst, bin ich kein tourist.
wie in jedem professionellen umfeld hat sich auch in akademischen kreisen ein "jargon" ergeben, der die in frage stehenden objekte oder themen mit hoher sprachlicher präzision benennt, da ist das "narrativ" der politikwissenschaft nichts grundlegend anderes als die "12er flanschmuffe" des installateurs. dass dieser - gewollt oder ungewollt - zur distinktion beiträgt, sollte man sich durchaus bewusster machen, da geh ich konform. der obige text erweckt allerdings den eindruck, als sei dies der vorrangige zweck dieses vokabulars. erzähl das mal einem juristen oder verwaltungsbeamten.
Ich würde da jetzt auch nicht von absichtlicher Distinktion ausgehen, aber es ist ja nicht ganz unerheblich, wie es am Ende bei den Menschen ankommt. Wenn ein Politiker gerne mit fremdwortgespickten Schachtelsätzen operiert und diese dann in gepflegtem Nordhochdeutsch ausspricht, dann hält er selbst das wohl für sprachgewandt, beim Volk gilt er dann aber schnell als abgehoben, "der ist keiner von uns". Ein leidiges Problem der SPD, das Gendern kommt noch erschwerend dazu.
Das genaue Gegenbeispiel ist die CSU. Kaum ein maßgeblicher Politiker, der nicht wenigstens einen dialektgefärbten Zungenschlag hat, die männlichen Vertreter sprechen gerne mit tiefer, sonorer Stimme und rollen gemütlich das R, allein dadurch kommen schon heimelige Gefühle auf. Vor allem aber sprechen sie in (relativ) klaren, kurzen Sätzen und vermeiden den übermäßigen Gebrauch von hippen Fremdwörtern und verwenden Floskeln, die beim Zuhörer Vertrauen erzeugen. Wenn z.B. ein Söder beim Interview eine Antwort mit einem treuherzigen "Schauen Sie, ..." beginnt, das ist als ob er einen kurz am Arm berührt.
Ich bin schon ein bisschen frustriert darüber, dass die Leute aus dem linken / linksliberalen Lager das einfach nicht lernen. Oder das vielleicht auch nicht lernen wollen, weil sie das als unter ihrem Niveau ansehen.
Zitat von CobraBora im Beitrag #84Wenn z.B. ein Söder beim Interview eine Antwort mit einem treuherzigen "Schauen Sie, ..." beginnt, das ist als ob er einen kurz am Arm berührt.
Jetzt gehört die Vorstellung, dass mich Söder kurz am Arm berührt, zu den eher unangenehmeren Vorstellungen meines Tages, und ich war heute immerhin schon beim Zahnarzt. Ich verstehe deinen Punkt, finde aber selber gekünsteltes Volkstümeln als sehr unangenehm. Soll die SPD ihre Kandidaten demnächst nach Dialekt und Stimmlage aussuchen, oder vermutest du, dass die sich verstellen, um mit Hochdeutsch zu glänzen?
"Happy Holidays... is what terrorists say. Merry Christmas, from Avery and Jack."
Ich glaube das Problem liegt eher darin, dass nur wenige Berufsgruppen überhaupt im Bundestag und in den Landtagen vertreten ist. Was hilft es, wenn eine/r gut darin ist, so zu tun, als ob er oder sie eine/r von wen auch immer ist, wenn das in Wirklichkeit gar nicht zutrifft? Wer kein/e Beamte/r ist oder keine eigene Großkanzlei als Sicherheit hat, wird sich selten überlegen, ob man es nebenher mit einer politischen Karriere versuchen könnte.
☟ smog in berlin. nichts wie hin. weil du mich küsst, bin ich kein tourist.
Ich gehe davon aus, dass auch in der SPD jeder, der ein politisches Amt oberhalb der kommunalen Ebene anstrebt, Rhetorikschulungen absolviert. Da gibt es also sicherlich einigen Gestaltungsspielraum, man kann sich Gestik, Tonlage, Satzbau, Floskeln auch antrainieren. Nur muss dabei natürlich auch der Gedankengang eine Rolle spielen, wie man denn so beim Wahlvolk ankommt. Man sollte dabei auch nicht außer Acht lassen, dass die meisten Menschen immer noch auf dem Land wohnen und mit der Großstadtblase nichts am Hut haben. Die CSU hat das seit jeher perfektioniert, andere wollen das offenbar nicht kapieren.
Das Problem sehe ich auch, aber neu ist es nicht: Hör dir mal die Reden der 68er-Protagonisten an, die klingen oft nach einem Wettbewerb, möglichst viele Fachbegriffe unterzubringen, die der Arbeiterklasse garantiert nichts sagen.
Natürlich ist verständliche Sprache wünschenswert und wenn es sich nicht um einen wissenschaftlichen Beitrag handelt, darf man dafür auch leichte Ungenauigkeiten in Kauf nehmen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob sich ein Akademiker so leicht auf volksnah trimmen lässt. Jörg Haider hat das perfekt geschafft. Aber auch bei den Rechten gibt es Leute, die damit durchkommen, nichts außer Behördendeutsch zu sprechen, wie Stoiber (seine "Kompetenzkompetenz" war z.B. kein Stotterer sondern ein juristischer Fachbegriff). Der Söder ist ja auch kein Feind von Fremdwörtern, nur sind es bei ihm halt eher Marketingsprech-Wörter als wissenschaftliche Fachbegriffe.