Remarques Erstling von 1920, dem man sein Alter deutlich anmerkt und der ihm später auch ziemlich peinlich war. Richtig versteht man den Roman erst, wenn man weiß, daß der junge Remark (wie er damals noch hieß) Teil eines recht elitären Zirkels junger KünstlerInnen war, die sich um einen deutlich älteren, schwerkranken Mentor scharten, der ihnen seine Weltsicht nahebrachte und kurz darauf starb, was die jungen Leute sehr prägte. Insofern ist das Buch auf wahren Ereignissen basierend und in erster Linie als Dokument von Remarques schriftstellerischer Entwicklung interessant. Es gibt natürlich extrem viel Pathos und überschäumende Gefühlswelten, einen für die damalige Zeit typischen bohèmehaften Stil und allerlei Ansichten, die zur heutigen Zeit mehr als merkwürdig wirken. Ein extrem antiquiertes Frauenbild, Deutschtümelei, und einmal taucht sogar das Wort "verjudet" auf. Selbstverständlich wollten Remarques Kritiker ihm in späteren Jahren einen Strick aus diesem Buch drehen, auch wenn er sich bereits 1929 davon distanzierte. Interessant ist der Anhang, ohne den man dieses Buch nicht versteht; er enthält viele Tagebucheinträge Remarques, in denen man seine innere Wandlung vom schwärmerischen jungen Mann mit pathetischen Gefühlswallungen, die fast immer unfreiwillig komisch wirken (und mich an mich selbst mit 19 erinnert haben) zum späteren kritischen Geist nachvollziehen kann; noch deutlicher wird diese durch die biographischen Details, in denen man erfährt, daß Remarque bereits 1919 (also ein Jahr VOR der "Traumbude") in seiner Heimatstadt Osnabrück gegen Militarismus demonstriert und sich in einem Zeitungsartikel gegen Antisemitismus positioniert hat, so daß die Passagen im Buch eher O - Ton seines damaligen Mentors Hörstemeier sind, der ein völliger Exzentriker gewesen sein muß. Gelesen hab ich die "Traumbude" übrigens recht gerne, auch wenn sie in ihrem Schwulst manchmal schwer zu ertragen ist; die biographischen Anmerkungen machen sie eher zum Zeitdokument, und als solches sollte man sie auch lesen.
We don't believe in anything we dont stand for nothing. We got no "V" for victory cause we know things are tougher.
(Iggy Pop/James Williamson: "Beyond The Law")
---------------------------------------------------------------- From the river to shut the fuck up.
Schon die letzten beiden Achtens fand ich toll (das sehr wuchtige „Nichts bleibt“ und das bewegende „Die wir liebten“ Über zwei Brüder in einem Erziehungsheim in den Siebzigern in NS-Tradition). Dieses ist auch sehr gut. Melancholisch und poetisch im Ton, mit klassischer Erzählung (Rückkehr ins Dorf, in dem man aufgewachsen ist, ein Ereignis aus der Jugend, das alles verändert hat).
Ich habe echt zuviele Musikerbiographien mit Drogenabstürzen gelesen. Klar ist das alles düster und hammerhart, aber auch echt ermüdend und in einem reichlich faden, manchmal platten Stil verfaßt. Interessanter finde ich mittlerweile die Info, wie der betreffende Künstler mit anderen Musikern interagierte und in welchem Verhältnis sie zueinander standen bzw. stehen. Hier bekommt Liam Gallagher übelst sein Fett weg (während Noel mit Respekt beschrieben wird), desweiteren tauchen noch sehr viele andere bekannte Namen auf. Ansonsten war das nun als Buch nicht gerade eine Bereicherung; es liest sich natürlich weg wie nix, ich kann aber weder mit den Screaming Trees noch mit Lanegan solo viel anfangen und schätze ihn eigentlich hauptsächlich bei QUOTSA, und sympathischer hat ihn mir diese Lebensbeichte nun auch nicht gerade gemacht. Habe aber zum Glück einen großen Mark - Lanegan - Fan im Bekanntenkreis, an den ich sie gleich weiterverschenkt habe.
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(Iggy Pop/James Williamson: "Beyond The Law")
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Der Ansatz, aus der Perspektive von Menschen, Dingen und Gefühlen zu schreiben, kann sicherlich gründlich schief gehen (ich mag zb schon nicht, wenn aus der Sicht von Katzen erzählt wird). Hier funktioniert das erstaunlich gut und geradezu unauffällig. Eine interessante und bewegende Geschichte über eine Art Mini-Sekte, vier verlorene Gestalten, von denen eine verhungert ist (sie brauchen ja nur Licht). Exzellent übersetzt :-)
nachdem ich vom "floss der medusa" sehr angetan war, hier das nächste buch von franzobel. thema des romans ist die "de soto-expedition" um 1540, nach cortez und pizzarro der nächste vernichtungsfeldzug gegen die indigenen völker amerikas (hier: florida) - im falle von de soto allerdings ohne messbaren "erfolg" im sinne von riesigen goldschätzen. hier hatte jenes viertel der männer, welches die vier jahre überlebt hat, schlicht glück, dass es... naja, eben überlebt hat. ich habe lange mit mir gerungen, ob ich den schreibstil von franzobel erträglich finde, allzu oft wird der hieb in die moderne gewagt, wird beschrieben, wie hier das popcorn, dort der american football erfunden wird, werden indigene stämme mit bajuwarischen eigenschaften porträtiert oder eine schwedische kolonie in die ikea-ecke gesteckt. witzig ist das nur bedingt, unnütz ist es hundertprozentig. am ende konnte ich diese stellen ignorieren, die geschichte selbst ist sehr prall und bunt geschrieben, vergisst aber auch den ernst der thematik nicht: hier die strapazen, die die konquistadoren auf ihrem feldzug durchlitten haben, dort natürlich das himmelschreiende unrecht, sich diesen kontinent durch vernichtung und plünderung anzueignen. franzobel schafft den spagat, den leser gut zu unterhalten, und fast wie nebenbei eine wertvolle geschichtsstunde zu erteilen.
Dirk Bernemann: Ich hab die Unschuld kotzen sehen 1 - 3 (Sammelband)
Dirk ist ja ein Kollege, den ich persönlich sehr schätze, und es ist interessant, mal seine Entwicklung als Autor in einem Buch komprimiert nachverfolgen zu können, und zwar anhand lose zusammenhängender Geschichtensammlungen.. Teil 1, erschienen 2005, taugt mir überhaupt nichts; ich habe mich da zäh hindurchgequält, und fand es phasenweise dermaßen unterirdisch, daß ich es ins Eck gefeuert hätte, wäre es nicht von ihm gewesen. Viel zu platt und klischeehaft, bevölkert von unterschiedlichen Figuren, deren Ausdrucksweise ständig so homogen ist, daß sie auf manche Charaktere überhaupt nicht paßt. Teil 2, erschienen 2007, weist schon einen deutlichen Aufwärtstrend auf und zeigt deutlich mehr Licht als Schatten (und mit "Generation Kaffee Kippe" einen Text, der exakt auf den Punkt kommt). Und Teil 3 (2018) ist absolut grandios; obwohl es der umfangreichste ist, habe ich ihn in weniger als einer Woche niedergemäht. Hier erkennt man seine Stärken; die Auslotung menschlicher Charaktere, gepaart mit seinem kreativen Umgang mit Sprache und differenzierten Betrachtungsweisen, anstatt die Figuren - so kontrovers sie auch sein mögen - plakativ abzuwatschen. Dazu mit "Das Wasser ist kalt und Else lächelt" zum Abschluß einen Text, der mit zum Herzerwärmendsten gehört, was ich je von ihm gelesen habe.
Ich freue mich auf jeden Fall auf seinen aktuellen Roman "Schützenfest", der hier auch gerade auf dem "Ungelesen" - Stapel liegt.
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(Iggy Pop/James Williamson: "Beyond The Law")
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Da ist nicht zufällig seine Hommage an Phillip Boa (die er als einköpfige "Vorband" in Coesfeld vorgetragen hat) drin? Falls du ihn mal wieder triffst: Die war großartig, die die soll er doch gerne mal als Kunstdruck o.ä. anbieten, Boa Fans würden sowas bestimmt kaufen.
der zwölfjähriger theo hat ein einziges ziel im leben: er möchte sich bewusstlos trinken. was seine beweggründe sind, wie machtlos seine ahnende lehrerin ist, welche geschichte hinter seiner familie und der seines freundes steckt, das erzählt delphine de vigan in "loyalitäten". die nüchterne sprache der autorin trifft einen punkt bei mir, auf jede blumigkeit wird verzichtet, licht scheint selbst am ende kaum durch (aber da kommt es auf die eigene phantasie an). ein sozialdrama, pragmatisch und klar. ich fands super, delphine de vigan kommt auf die liste.
Ich war letztens mal wieder auf einer Bernemann-Lesung; Stories wie "Schützenfest" über zynische Dorfhater gibt's natürlich viele (und sind natürlich berechtigt hoch 10), aber bis auf ein paar müde Klischees war das sehr unterhaltsam, würde ich empfehlen. Das erste "Kotzen" hab' ich mal als Hörbuch eingelesen und verschenkt und einen Kurztext in der Uni vertont, fun stuff!
Zitat von King Bronkowitz im Beitrag #1840Boa wird oft zitiert in dem Buch. Hab ihm den Link geschickt und er hat die Rezension gelesen; werde ihm mal deine Frage auf FB schicken.
Er hat mich direkt angeschrieben, die Story ist in "Gesten und Geräusche", habe ich direkt bestellt. Danke dir für die Unterstützung, eigentlich hätte ich auch selbst mal drauf kommen können, ihn zu fragen.