Zitat von Olsen im Beitrag #5530Ich bin großer Befürworter des Duzens. Von mir aus kann das "Sie" vollständig in den Mülleimer.
Ich halte das für ganz großen Quatsch. Für mich ist es selbstverständlich, beispielsweise Altersheimbewohner, Holocaustüberlebende oder Professoren zuerst einmal mit "Sie" anzusprechen, genauso wie mein Publikum. Das "Du" kann mir immer noch anbieten, wer sich daran stört. Auch ein schönes Beispiel: bei Streit auf der Straße, in den man ohne sein Zutun gerät, den Kontrahenten zu siezen um der Umgebung zu zeigen, daß man mit demjenigen nix zu tun hat und sich da nicht zwei Kneipenbekanntschaften zoffen. Das ist nicht nur ein verdammt guter Rat, es hilft manchmal auch wirklich.
We don't believe in anything we dont stand for nothing. We got no "V" for victory cause we know things are tougher.
(Iggy Pop/James Williamson: "Beyond The Law")
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@King: Das stimmt schon, aber andererseits gibt es inzwischen durch den kulturellen Wandel und durch die Erosion der traditionellen Sprachmuster einfach zu viele Grauzonen. Im rein privaten Bereich dutzt man sich heute bis auf wenige Ausnahmen (v.a. sehr betagte Menschen) ja doch meist innerhalb einer Stunde (warum dann nicht einfach als allgemeine Norm festlegen?) und die Gefahr von Missverständnissen ist durch diesen Wandel eben auch gewachsen, der eine legt Duzen als Anbiederung aus, die andere Siezen als unnötige Distanz oder Herabwürdigung, dazu kommen dann zig regionale Besonderheiten. Insgesamt geht dafür einfach viel Zeit und Energie drauf, finde ich, während der Nutzen begrenzt ist.
Von der Erziehung her benutzt man ja ein „Sie“ zumeist bei Personen, die man nicht kennt oder die älter sind als man selbst. Sicher hat das immer etwas mit Respekt und auch Distanz zu tun.
Geht es nach dem Knigge, hat jede volljährige Person ein Recht auf ein „Sie“ und das gegenseitige Duzen darf immer nur vom „Ranghöheren“ angeboten werden. Andererseits wird das Du heute viel häufiger verwendet. Oft ja auch in Unternehmen.
Das höfliche „Siezen“ gibt es neben dem eher vertraut-familiären „Du“ schon seit langer Zeit.
Blickt man ins 16. Jahrhundert zurück, gab es sogar noch ein „Ihrzen“. Man sprach sich in der zweiten Person Plural an. Also kein „Wie geht es dir?“ sondern ein „Wie geht es Euch?“ oder "Was macht Ihr morgen?" Dies galt als sehr höflich, weil man so niemanden direkt angesprochen hat, sondern quasi jemanden als Teil einer Gruppe behandelt hat. Ein „Ihr“ lässt ja sprachlich quasi offen, wer genau gemeint ist, schont also das Individuum. Ein Du wirkt hingegen sehr direkt, zeigt sprachlich quasi mit dem Finger auf eine ganz bestimmte Person. In Frankreich hat sich das höfliche „Ihr“ (vous) daher bis heute gehalten.
Im Laufe der Jahrhunderte wurde das „Ihr“ aber in der Bevölkerung immer mehr benutzt und so zugleich auch als Höflichkeitsform entwertet. Es bildeten sich neue Formen der Anrede wie etwa „Der Herr Schmitz“ oder auch „Gnädiges Fräulein“, etc.
Spätestens im 17. Jahrhundert wurde das Wort „Er“ immer mehr genutzt. Man fragte nun also auch nahestehende Personen nicht „Wie geht es dir?“ sondern „Wie geht es ihm?“ Sprachlich wirkt dies so, also würde man über eine abwesende Person reden. Man tritt so also sprachlich niemandem zu nahe, ist also höflich.
Bald vermischte sich das „Er“ und das „Ihr“ und man verwendete ein „Sie“. Gemeint ist keine Gruppe, sondern ein singularisch verwendetes Sie. Und dieses Sie hat sich als Höflichkeitsform seitdem lange gehalten. Heute ist alles vernetzter, es gibt vielerorts weniger Hierarchien und Stände und die Unterschiede zwischen den Menschen werden geringer. Auch schwindet die Grenze zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit. Auch hier im Forum erzählt man relativ öffentlich private Dinge und der Umgang miteinander wird persönlicher, familiärer, lockerer. Oft ist gar keine Distanz mehr nötig und das gegenseitige Duzen fällt vielen leichter.
Dies hat Folgen. Man benötigt die höfliche Anrede eben immer weniger. Man kann häufig auch das Du verwenden. Gerade dann, wenn man Menschen gleich behandeln will, muss dies letztlich auch in der Anrede ausgedrückt werden. Nicht wenige Firmen haben einen Verhaltenskodex und geben dann auch vor, ein einheitliches Du zu verwenden.
Angebracht ist ein Sie oft noch da, wo bewusst Distanz und Neutralität zum Ausdruck kommen soll. Fragt ein Journalist im TV die Kanzlerin „Du, sag mal Angela, was sagst du eigentlich so zum Markus, nervt er dich momentan nicht?“ – dann wäre das vielen doch etwas zu nah und persönlich und jede kritische Distanz würde vermisst werden.
Bei einer Appinio-Studie von 2019 wurden 4.877 Deutsche zwischen 16 und 54 Jahren zum Thema befragt. Nur 8 % möchten das Siezen ganz abschaffen. Für 61 % ist Siezen ein Zeichen von Respekt und Höflichkeit sowie Zurückhaltung. 20 % finden ungefragtes Duzen positiv, 12 % negativ. 16 % lehnen das Duzen auf der Arbeit ab. Im Ladengeschäft möchte rund ein Drittel geduzt werden – falls dies zum Geschäft passt. 20 % machen es davon anhängig, ob sie das Personal kennen. 31 % stören sich dort aber nicht am Du. 10 % sind genervt vom dortigen Du.
"Good taste is the worst vice ever invented" (Edith Sitwell)
Zitat von LFB im Beitrag #5538Das stimmt schon, aber andererseits gibt es inzwischen durch den kulturellen Wandel und durch die Erosion der traditionellen Sprachmuster einfach zu viele Grauzonen.
Ich für meinen Teil sehe ungefragtes Duzen durch Leute, von denen ich das nicht will, als Distanzlosigkeit. Und wenn diese Distanz nicht eingehalten wird, berührt mich das unangenehm. Ich lasse auch nicht jeden Depp durch meine Wohnung laufen.
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vom beruflichen standpunkt aus müsste ich eigentlich sofort auf die straße rennen und lauthals die restlose und radikale abschaffung des "Sie" fordern, fackel und molli in der hand. in meinem metier ist das du/Sie-thema ein steter quell von fehlern, ärger, und endlosen redaktionellen erörterungen. keine ahnung, warum ich das nicht gleich geschrieben habe.
Das führt bei mir regelmäßig zu Belustigung, wenn in deutschen Synchros sich beim Beischlaf noch gesiezt wird. Okay, das ist jetzt übertrieben, aber die Fähigkeit oder die Zeit, die Beziehungen der Charaktere untereinander genau nachzuvollziehen, scheint so manchen DialogschreiberInnen offenbar abzugehen. Das soll jetzt aber keine pauschale Schmähung sein.
☟ smog in berlin. nichts wie hin. weil du mich küsst, bin ich kein tourist.
Zitat von Lumich im Beitrag #5542deutschen Synchros sich beim Beischlaf noch gesiezt wird
"Würden Sie sich bitte entkleiden? Ich trage zufällig ein Rohr bei mir, das dringend verlegt werden muß." "Aber gerne doch, treten Sie ein. Ich befinde mich ebenfalls gerade in einem etwas übererregten Zustand; meine Hormonproduktion widersetzt sich momentan einer Drosselung."
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in vorarlberg wird sehr viel geduzt, unter leher:innen und sozis ausschließlich, auch sämtliche chef:innen werden geduzt. bei sehr alten menschen ihrezen hier sehr viele leute noch, ich auch manchmal. ansonsten hab ich mit dem mit Sie ansprechen und angesprochen werden immer wieder probleme, v.a. wenn die situation unklar ist, zb. wenn die person etwa gleich alt ist wie ich. in der schule müssen mich die kinder eigentlich sizen. einige scheißen drauf, auch mit der klaren ansage "vor dir hab ich eh keinen respekt, warum soll ich dich siezen", andere wollen nicht, wieder andere sind zu jung und man muss es mit ihnen erst noch einüben. der großteil hat's allerdings recht gut drauf. ich fordere das Sie sehr selten ein. ich weise darauf hin, aber wenn mich die schüler:innen mit "du, frau m." ansprechen, ist das ok für mich. mir ist es lieber jemand sagt zu mir "du bist nett" als "Sie arschloch". höflichkeit wird nicht (nur) durch pronomen ausgedrückt.
Zitat von beth im Beitrag #5545höflichkeit wird nicht (nur) durch pronomen ausgedrückt.
Das ist allerdings richtig. Dennoch erlaubt das simple Sie eine Akzentuierung, die ganz easy einen gewissen Respekt seinem Gegenüber gegenüber ausdrücken kann, und mit der gegenseitig ausgesprochenen Erlaubnis zum Duzen verbinde ich demgegenüber eine freundliche und respektbekundende klitzekleine Geste der Achtsamkeit, Wertschätzung und einhergehend eine gewisse Bekundung des gegenseitigen Wohlwollens. Ächz, was ein Satz. Gegenüber. Frosch. Miau. Musste mal eben neutralisieren.
Just a MF from hell.
Rotation:
Cindy Lee - Diamond Jubilee | Being Dead - Eels | Shellac - To All Trains
Zitat von Lumich im Beitrag #5542Das führt bei mir regelmäßig zu Belustigung, wenn in deutschen Synchros sich beim Beischlaf noch gesiezt wird. Okay, das ist jetzt übertrieben, aber die Fähigkeit oder die Zeit, die Beziehungen der Charaktere untereinander genau nachzuvollziehen, scheint so manchen DialogschreiberInnen offenbar abzugehen. Das soll jetzt aber keine pauschale Schmähung sein.
zur ehrenrettung sei dir bezüglich der zeit beigepflichtet, an der mangelt es tatsächlich oft. bei manchen serien hangeln sich die teams aus zeitdruck auch noch von folge zu folge, ohne zu wissen, wie es weitergeht (klassischer fall: "the walking dead"). wer glück hat, kriegt vorher wenigstens noch eine ganze staffel zu gesicht (was aber auch nicht vor den plottwists in den weiteren seasons schützt).
Die deutschen Fernsehproduktionen sind da leider auch nicht besser. Gerade in Situationen, wo sich eine amouröse Spannung aufbauen soll, also die Art Situation wo man am liebsten einen Fernsehredakteur eine Gratis-Flugstunde aus dem Fenster spendieren möchte, wird mit Absicht gern gesiezt, weil es Leute gibt, die das für frivol halten - ebenso frivol, wie die Hacken nicht zusammenzuschlagen, wenn man jemandem halbgebückt die Hand reicht. Heinz Rühmann grinst aus seinem Grab.
☟ smog in berlin. nichts wie hin. weil du mich küsst, bin ich kein tourist.