Ich find das ja echt spannend, was in D gerade passiert. Vor allem auch deshalb, weil wir in Ö das alles vor 20 Jahren schon hatten. Ich bin 1998 mit meinen Punkkolleg:innen gegen Haider auf die Straße gegangen und in den frühen 2000ern dann gehen Strache. Es gab Diskussionen über den Umgang mit diesen Leuten: in Talkshows einladen und bloßstellen, in Regierungsverantwortung lassen, damit sie sich selbst demaskieren, ja nicht mit echten Nazis vergleichen, weil das ihnen in die Karten spielt usw., das hat man hier alles lang und breit diskutiert und versucht und getan. Und trotzdem oder deswegen heißt der nächste Wahlsierger vielleicht Kickl. Die Option, die Nazis (und Strache ist Nazi) zu verbieten, wurde mit Verweis auf Demokratie und bla abgetan. Verbietet die AfD. Es ist die einzige Chance. Diese Leute wissen genau, wie sie an Macht kommen und ihre Ideologie verbreiten können. Man muss es unterbinden.
An Demokratiefeindlichkeit ist die Vorstellung allerdings nicht zu überbieten, man könnte die Wählerinnen und Wähler mit Diffamierungen, ausgerechnet von ihnen als Steuerzahler selbst finanzierten PR-Kampagnen und einem Parteienverbot umerziehen, genausowenig wie die Behauptung, zwischen 20 und knapp 40% der Wählerinnen und Wähler seien jetzt auf einmal Nazis, mit denen man sowieso nicht verhandeln dürfe. Eine glaubhafte und dauerhafte Korrektur der weitgehend verkorksten Migrationspolitik ist der Schlüssel dazu, die AfD von der Macht fernzuhalten, so einfach ist das. Die harmlosen Gesetzesänderungen, die jetzt beschlossen und dabei schon wieder von den Grünen weitgehend weichgespült wurden, sind keine wirkliche Korrektur, sondern zeigen ja erst, wie absurd die rechtliche Situation bisher immer noch ist (wenn z.B. bei Abschiebungen wirklich nur das Zimmer des Abzuschiebenden betreten werden darf. Sobald er sich im Nachbarzimmer aufhält, wird die Abschiebung abgeblasen und das vor dem Hintergrund, dass ihm die Abschiebung mit Tag und Uhrzeit auch noch angekündigt wird. Es ist so absurd, man kann es ja kaum in Worte fassen). Wäre das Thema nicht so ernst und würde nicht ernsthaft ein Spinner wie Höcke nach der Macht (noch "nur" auf Landesebene) greifen, fände ich diese komplette Selbstdemontage des linken Spektrums durch permanente Erhöhung der Dosis der immergleichen kontraproduktiven Medizin (inhaltlich "keinen Millimeter" nachgeben, noch mehr Beschimpfungen und Nazi-Vergleiche, noch mehr Clips mit rotgrünen Promis, noch mehr bunte Fähnchen und Slogans (die kein Konservativer ernsthaft mittragen kann), noch mehr Realitätsverweigerung, noch mehr durchschaubare Falschbehauptungen (wie die, dass der zunehmende Antisemitismus und der Aufstieg der AfD vom gleichen Klientel getragen würden) und immer noch mehr steuerfinanzierte Mittel und Pöstchen fürs eigenen politische Metier unter dem "Kampf gegen Rechts"-Banner) ja amüsant. Wenn die Ampel jetzt abtreten würde, SPD und CDU eine große Koalition bilden und die schlimmsten Fehler der letzten Jahre korrigieren würden (neben der alles dominierenden Migrationspolitik müsste u.a. vor allem endlich das Lohnabstandsgebot wieder hergestellt werden), steht die AfD zum Jahresende wieder unter 5%, die Wette würde ich eingehen.
Zitat von LFB im Beitrag #10007 Eine glaubhafte und dauerhafte Korrektur der weitgehend verkorksten Migrationspolitik ist der Schlüssel dazu, die AfD von der Macht fernzuhalten, so einfach ist das.
hier erlaube ich mir, der exakt gegenteiligen meinung zu sein. dein rückschluss ist nicht nur falsch, sondern meines erachtens auch längst widerlegt - jeder versuch, der AfD nach dem munde zu reden, hat diese bislang nur stärker gemacht. und ja, ich glaube tatsächlich, dass die wählerschaft dieser partei den anteil derer widerspiegelt, die unverarbeitete protofaschistische ansichten hegen. und nein, nicht plötzlich; die gab es schon immer, sind aber bis vor einigen jahren mehr oder minder eingehegt gewesen, und haben sich nur in bruchteilen mit ihrem völkischen gewürge an die öffentlichkeit getraut. dies nur zum thema "man darf ja heute gar nichts mehr sagen" - ganz offensichtlich durfte man noch nie so viel sagen wie heute, und manches bliebe eben besser doch ungesagt.
Zitat von LFB im Beitrag #10007 Eine glaubhafte und dauerhafte Korrektur der weitgehend verkorksten Migrationspolitik ist der Schlüssel dazu, die AfD von der Macht fernzuhalten, so einfach ist das.
hier erlaube ich mir, der exakt gegenteiligen meinung zu sein. dein rückschluss ist nicht nur falsch, sondern meines erachtens auch längst widerlegt - jeder versuch, der AfD nach dem munde zu reden, hat diese bislang nur stärker gemacht. und ja, ich glaube tatsächlich, dass die wählerschaft dieser partei den anteil derer widerspiegelt, die unverarbeitete protofaschistische ansichten hegen. und nein, nicht plötzlich; die gab es schon immer, sind aber bis vor einigen jahren mehr oder minder eingehegt gewesen, und haben sich nur in bruchteilen mit ihrem völkischen gewürge an die öffentlichkeit getraut. dies nur zum thema "man darf ja heute gar nichts mehr sagen" - ganz offensichtlich durfte man noch nie so viel sagen wie heute, und manches bliebe eben besser doch ungesagt.
Der Fehler liegt m.M.n. schon da, wo dem rechten Narrativ auf den Leim gegangen wird, dass ungesteuerte Migration zum Hauptthema stilisiert. Tatsächlich wird kaum jemand in seinem täglichen Leben dadurch berührt. Das Hauptproblem sind die ungenügenden Strukturen in diesem Land in der Bildung, im Nahverkehr (ÖPNV und Straßen), in der Wohnungspolitik und im lebensnotwendigen Umbau auf Nachhaltigkeit und Fossilfreiheit. Insbesondere die Defizite im Bildungswesen und in der Wohnungspolitik erschweren auch die Einwanderung, und lässt diese problematischer aussehen als sie wirklich ist. Das Problem ist aber nicht die Einwanderung, die Probleme stecken tiefer, und würden auch nicht weggehen, wenn wir uns einmauern würden.
☟ smog in berlin. nichts wie hin. weil du mich küsst, bin ich kein tourist.
Was ein Verbot der AfD angeht, braucht man sich m.M.n. keine Illusionen machen. Das Verfahren dauert ewig (siehe NPD) und die Hürden sind sehr hoch. Wer Intresse und 45 Minuten Zeit hat, kann sich dazu die Phoenix-Runde anschauen. Insbesondere der Politikwissenschaftlicher von der HU Berlin führt sehr deutlich aus, wo die Schwierigkeiten liegen, bei einem Verbotsverfahren.
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dass du glaubst dass durch ungesteuerte migration kaum jemand in seinem lebensalltag berührt wird, zeigt für mich einfach wie unterschiedlich die wahrnehmungen unserer gemeinsamen welt sind - und wenn die basics so unterschiedlich gesehen werden verwundern die unverrückbaren positionen und tiefen gräben kaum.
Genau. Wahrnehmung ist der Schlüssel. Beginne mal Montag deine Woche und sammle die Momente, wo ungesteuerte Migration, oder der Einfachheit halber überhaupt Migration dich in deinem Leben beeinträchtigt. Viel Spaß.
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hm. ganz so rosa sind meine brillengläser dann auch nicht. ich muss nur meinen kumpel im wrangelkiez besuchen gehen, wo ich selbst lange gewohnt habe. ein besuch im örtlichen rewe kann schnell zum spießrutenlauf im drogendealerspalier werden (und ja, ich weiß, dass das ein komplexes problem ist, das nicht ausschließlich mit migration zu tun hat). auch die hilferufe der kommunen, die bei der unterbringung der geflüchteten ziemlich alleingelassen sind, sollten nicht ungehört verhallen.
Ich wohne im Wrangelkiez und kann dort ungehindert einkaufen gehen. Ich verstehe trotzdem was du meinst. Die Sache ist, dass die Dealer dort nicht stehen würden, wenn sie arbeiten dürften. Dafür haben sie ihr Leben riskiert und Qualen durchlebt. Die Kommunen, die überfordert werden, wären es nicht, wenn unsere Bildungsinstitutionen nicht ohnehin personell, räumlich und materiell ungenügend ausgestattet wären. Gleiches gilt für soziale Angebote und das Wohnungsangebot, sowie dem Gesundheitswesen. Das sind alles Probleme, die nicht durch Migration entstanden sind, und auch ohne Migration nicht weggehen würden - von den Problemen mal ganz abgesehen, die ohne Migration erst entstehen würden. Selbst das mangelnde Angebot im ÖPNV zahlt zusätzlich ein, weil es zu viele Kommunen gibt, die schlecht angebunden sind. Das erschwert u.a. die Verteilung. Wenn jetzt die Busse kommen und irgend ein Dorf überfordert wird, durch zu viele Menschen, die viel zu schnell kommen, ist es einfach diese Menschen als Problem zu identifizieren. In Wirklichkeit liegt das Problem aber woanders.
So viel mal zur rosaroten Brille.
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Ich glaube nicht, dass "die Migration" ein wirklicher Grund ist.
Der Kern ist meines Erachtens, dass wir eine große Bevölkerungsgruppe haben, die in der aktuellen Gesellschaft und vor allem im aktuellen Wirtschaftsleben keine Möglichkeit mehr findet, ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Für die gibt es nichts aus dem heraus sie sagen können "ich bin wer", "andere finden mich gut". In der Erwerbsarbeit sind sie meist abgehängt; sie haben zwar vielleicht noch einen Job, aber sie spüren ganz genau, dass sie auf Dauer in dieser Volkswirtschaft eigentlich nicht mehr gebraucht werden.
Da ist die allerleichteste Methode zu Gewinnung von Selbstwertgefühl zu sagen "ich finde den Sachverhalt XYZ mist" und zu schauen, ob jemand anderes dazu applaudiert. Und da applaudieren halt die anderen Abgehängten. Das ist fürs Selbstwertgefühl gut. Die anderen sagen dann auch, was sie Scheiße finden, und dann applaudiert man halt zurück. Man gehört jetzt zusammen und findet sich gut. Und dann gibts eine kleine Gruppe von machtinteressierten Leuten, die merken, dass da ein Potential ist um Macht aufzubauen, und dann sagen diese Machtinteressierten: "Hey Eure Kritik ist gut, wir finden Euch gut, kommt her, wir mögen Euch". Und dann sagt man sich als Abgehängter: ja toll, da krieg ich mein Selbstwertgefühl aufpoliert, da gehe ich hin - aka die wähle ich.
Ich weiß nicht, ob ich hier schon mal die Geschichte erzählt habe: Anfang der 90er habe ich als Studentenjob im Rechenzentrum der bayerischen Landeszentralbank Überweisungen in den Rechner eingetippt, die der automatische Überweisungsformular-Leser nicht verarbeiten konnte. So ein Lese"gerät" war eine Kleinwagen große Maschine, die ca 300000 Überweisungsformulare in vier Stunden in den Großrechner eingelesen hat. Für die Bedienung der zwei Maschinen sowie die Korrektur- und Abrechnungsläufe genügte eine Abteilung von 18 Leuten (vom Abteilungsleiter bis zum Servicetechniker) um den gesamten Geldfluss in Bayern abzuwickeln.
Nach dem Einstellungsgespräch hat mich der Leiter der Abteilung zurück zum Ausgang gebracht, und dabei durchquerten wir eine riesige, leere Halle in den Ausmaßen von drei Basketballfeldern (man kann sie auf Google-Earth im innenhof der Ludwigstraße 13 immer noch sehen). Der Abteilungsleiter, auf den ersten Blick für mich ein schnöseliger Yuppie, meinte damals zu mir: "In dieser Halle saßen bis vor drei Jahren 250 Leute in zwei Schichten und haben die Überweisungsbelege sortiert und händisch erfasst. Von den 250 sind zehn noch in der heutigen Abteilung. Ich sage Ihnen eines: Unsere Gesellschaft sollte sich ernstlich überlegen, was sie den restlichen 240 Leuten in Zukunft bieten will. Wenn wir nichts für diese Leute finden, wird das irgendwann ganz übel auf uns zurückfallen".
Ich vermute, er dachte damals wohl eher an eine linksproletarische Revolution. Heute werde ich das Gefühl nicht los, dass seine Prophezeihung sich gerade bei der AFD bewahrheitet.
Dass seit der Wende Erwerbsarbeit eine massive Abwertung erfahren hat ist ein Thema, über das nur selten gesprochen wird. Als ich neulich an einer Tram-Haltestelle stand, lief an der Digital-Anzeige, die die nächste Bahn ankündigt ein Lauftext, in dem geworben wurde für BewerberInnen, weil FahrerInnen gesucht werden. Ich hab mir mal angeschaut, was man als Tram-FahrerIn verdient, und das war brutto weniger als halb so viel, wie ich ich netto verdiene. Wir sprechen also von einem Lohn, von dem man in Berlin nicht leben kann. Ich erinnere mich gleichzeitig daran, dass in den 80ern, als ich noch ein Rotzlöffel war, die meisten U-Bahnhöfe auf der halben Etage zwischen draußen und Bahnsteig mindestens ein Häuschen aus dunklem Holz stand, wo man Tickets kaufen konnte. Gleichzeitig gab es an jedem Bahnsteig einen Ansager, der nicht viel mehr zu tun hatte, als „Einsteigen bitte“ und „zurückbleiben“ ins Mikrofon zu rufen (und „mit dem Fahrrad nicht in den ersten Wagen“). Beides waren Berufe, die nicht viel Können erforderten, bei denen man sicherlich auch nicht reich wurde, aber irgendwie auskömmlich über die Runden kam. Heute ist das un-denk-bar. Heute kann man selbst in einem erlernten Beruf noch arbeiten und trotzdem arm bleiben.
☟ smog in berlin. nichts wie hin. weil du mich küsst, bin ich kein tourist.
und man ist wer. man trägt verantwortung und trägt einen teil dazu bei, dass die gesellschaft, in diesem fall der verkehr, funktioniert. das ist nicht zu unterschätzen. menschen wollen hilfreich sein.
Zitat von beth im Beitrag #10018und man ist wer. man trägt verantwortung und trägt einen teil dazu bei, dass die gesellschaft, in diesem fall der verkehr, funktioniert. das ist nicht zu unterschätzen. menschen wollen hilfreich sein.
Richtig!
Ich weiß nicht, ob es hier war oder wo anders empfohlen wurde:
Kurze Vorlesung über Hannah Arendt, die genau die ähnliche Entwicklung von der selbstständige Leistung in der vorindustriellen Zeit hin zur Lohnarbeit (in der der einzelne austauschbar ist) im Rahmen der Industrialisierung im 19. Jahrhundert als eine der wesentlichen Ursachen für das Erwachsen einer Bevölkerungsgruppe sieht, die dann für den Faschismus empfänglich war. Kommt ungefähr ab 5:48, dann etwa 5 Minuten weiter zuhören.
Zitat von LFB im Beitrag #10007genausowenig wie die Behauptung, zwischen 20 und knapp 40% der Wählerinnen und Wähler seien jetzt auf einmal Nazis
Nur wenige behaupten, alle AfD-Wähler seien Nazis. Aber auch nicht alle NSDAP-Wähler waren wirklich überzeugte Nazis, vielleicht nicht mal die Mehrheit.