Was für ein Jahr: So beschissen wie ich nahezu alle Platten-Releases 2015 fand, so entgegengesetzt phänomenal waren die Konzerte. Das war jetzt schon das vierte, das ich ohne Probleme auch irgendwo unter meinen Personal Top 10-Ever-Konzerten packen könnte. Der Vollständigkeit halber: 1) Beirut / Berlin, 2) Kamasi Washington, 3) Tune Yards, 4) eivør
Beschissen war das falsche Wort. Kann ja das Jahr auch nichts dafür dass Kendrick Lamar so klar, so unerreichbar weit vorne Platte des Jahres werden wird. In anderen Jahren hätte es aber zumindest mehr Konkurrenz gegeben. Ich war aber auch sehr faul. Aber zb von den pitchfork "Best New music"- und sonstigen konsensplatten hat mich keine eine gekickt.
Zitat von Nachtkrabb im Beitrag #110Beschissen war das falsche Wort. Kann ja das Jahr auch nichts dafür dass Kendrick Lamar so klar, so unerreichbar weit vorne Platte des Jahres werden wird. In anderen Jahren hätte es aber zumindest mehr Konkurrenz gegeben. Ich war aber auch sehr faul. Aber zb von den pitchfork "Best New music"- und sonstigen konsensplatten hat mich keine eine gekickt.
Eines der besten Musikjahre meiner Geschichte und Kendrick Lamar ist noch nicht mal auf dem ersten Platz
Am vergangenen Mittwoch war es endlich soweit: Sex Jams live! Ich versteh gar nicht, warum es so lange gedauert hat, bis unsere lieben Nachbarn aus Österreich sich dazu durchgerungen haben im hübschen Münster zu spielen. Es war jedenfalls lange überfällig! "Trouble, Honey" habe ich 2013 zu einem meiner Top 3 Alben gewählt (neben den Beach Fossils und PINS) und das will was heißen! Ich finde das Album so großartig, dass mir damals nicht mehr als Folgendes dazu einfiel:
"Dass die junge Band aus Wien ihre Wurzeln im Noise Rock und Post Punk hat und sich an Vorbildern wie Sonic Youth und Dinosaur Jr. orientiert, lässt sich seit dem Debüt 'Post Teenage Shine' von 2010 nicht mehr verleugnen. Mit dem Zweitwerk 'Trouble, Honey' fahren sie weiterhin eine sehr ähnliche Schiene und bleiben ihrem authentischen, ohrwurmigen und 90er Jahre-Charme versprühendem Sound treu." - gute Rezensionen überlasse ich dann lieber dem Freeman. Meine Worte können einigen Dingen einfach nicht und niemals gerecht werden.
Als ich mir vor ca. drei Monaten zu Ohren kam, dass sich die Sex Jams im November in Münster die Ehre geben, bin ich noch am selben Tag zu Green Hell geradelt und wollte mir ein Ticket kaufen. Leider gab's die aber noch nicht. Von wegen "Der frühe Vogel BLA!". Die darauffolgenden Wochen saß ich auf heißen Kohlen und habe die Facebook-Veranstaltung quasi im stundentakt aktualisiert. Als dann irgendwann die Vorband (Die Wirklichkeit) angekündigt wurde, aber immer noch nichts von Tickets und/oder Preis zu lesen war, fragte ich nach. "Abendkasse und irgendwas zwischen 7 und 9 €." war die Antwort. Und die gefiel mir ziemlich gut. Ich hätte locker das Doppelte springen lassen. Gut, so war dann mehr Geld für Bier über.
Mir war Die Wirklichkeit bisher nicht bekannt und ich hörte vor dem Konzert auch bewusst nicht mehr rein, weil ich Angst hatte die Jungs zu mögen und sie eventuell zu verpassen, weil ich noch so lange in der Uni war und nicht wusste, ob mein Zug überhaupt pünktlich ankommt. Da der Zug aber gar nicht erst zur Uni fuhr, habe ich auch die Vorband komplett sehen können. Ich hatte ja erst die Befürchtung, dass Die Wirklichkeit ähnlich einschläfernd wie Die Heiterkeit ist (das klingt wertender als es soll: Ich find die Mädels ganz in Ordnung). Aber auch lustig das zu denken, nur weil sich die Namen irgendwie ähneln, na ja. Musik in dem Stil hätte aber halt einfach nicht gepasst. Ich meine, es fielen schon Bandnamen wie Sonic Youth und Dinosaur Jr. Die Wirklichkeit war aber durchaus ganz cool. Sogar fast laut genug. Rein musikalisch fand ich die Herren wirklich gut, aber mir fällt doch immer wieder auf, dass viele Sänger solcher deutschen Bands irgendwie gar nichts draufhaben. Man muss ja keine Arien singen können, aber wär schon fein, wenn der Gesang nicht immer an Schulband erinnern würde. Ich hab mir irgendwann gedacht "Halt doch einfach die Fresse und spiel nur Gitarre, danke!". Deswegen war ich dann doch ganz froh, als sie ihr letztes Stück beendet hatten und Platz fürs Highlight gemacht wurde: Sex Jams! Eröffnet wurde das Set mit "Catch", dem ersten Track der neuen Platte und dem Namensgeber ebenjener. Schon in den ersten dreißig Sekunden war klar, wer im Club die nächste Stunde das Sagen hat: Katarina Trenk. Als Sängerin und Texterin der Sex Jams bekannt und als neue Gallionsfigur der Riot Grrrls von mir auserkoren. Was für eine geile Olle, echt! So eine Energie sieht man leider viel zu selten von Frauen auf der Bühne. Man merkt einfach, wie sehr sie das liebt, was sie macht und wie wichtig ihr die Musik und die Message dahinter ist. Sie ist wahnsinnig authentisch und ihr ist vollkommen egal, wie sie auf der Bühne aussieht, wenn sie sich das Kabel vom Mikro um den Hals wickelt und wie eine bessenene Bergpriesterin ihre Lyrics ins Publikum schreit. Eine richtig coole Sau einfach. Und ihre Stimme klingt haargenau wie auf Platte und erinnert zeitweise doch tatsächlich ein wenig an Kathleen Hanna. Diese Energie fasziniert mich einfach so sehr. Sie powerte das gesamte Konzert so durch. Bis auf die Tatsache, dass sie sich während eines Tracks auf den Boden mitten ins Publikum legte und mehrere Male "No means no!" rief. Das ist ja schon fast Performancekunst: Eine Frau legt sich in einer großen Menschenmenge auf den Boden und macht sich verletzlich. Aber sie setzt ein klares Statement mit ihrem Ausruf. Hach, ich bin verliebt. Aber auch die vier Herren an den Instrumenten sollen an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben - good job! Oh, ne, das darf man ja nicht sagen. Ne, die waren echt gut! Der Bassist hat zwar wahnsinnig viel verpeilten Unsinn geredet, aber wir sind jetzt alle in deren Gang!
Wer von euch die Chance hat, Sex Jams live zu sehen, der sollte sich diese auf KEINEN Fall entgehen lassen! Ich übernehm sogar die Verantwortung dafür, oh ja!
speziell für christopher (<3), aber auch für jeden, der gerne mitlesen möchte:
kraftwerk/ essen, lichtburg, 21.11.2015
ich gebe es zu, kraftwerk sind für mich "nur eine band". weder haben sie mein universum erfunden, noch kommt das ihre ohne längen aus, und wenn ich alte männer in neoprenanzügen mit seltsamen mustern sehen möchte, fahre ich nach st. peter ording. dennoch: die anfangssequenz von "radioaktivität" ist einer der größten momente der musikgeschichte, das gleichnamige album, "computerwelt" und "die mensch-maschine" möchte ich nicht missen. ich habe mich trotzdem nicht wirklich darum gerissen, sechzig euro auf den tisch zu legen. der gleichzeitig mit den überlegungen für ein passendes geburtstagsgeschenk für meinen freund jörg (der den "katalog" nicht gelsesen, sondern geschrieben hat) startende vorverkauf, der veranstaltungsort "lichtburg" im nahe gelegenen essen und das flaue gefühl, eventuell morgen tot umfallen zu können, ohne diese "legende" gesehen zu haben, haben mich zu diesem waghalsigen schritt getrieben.
die essener "lichtburg" ist ein kino in einem 1928 errichteten gebäude in zentraler lage, der kinosaal (mit 1250 plätzen der größte der republik) wurde nach kriegsschäden 1950 neu errichtet und ist in seiner pracht nicht wirklich eins zu eins mit einem herkömmlichen multiplex zu vergleichen. die sitze sind aus rotem plüsch und sehr bequem. nach den kraftwerk-konzerten anfang des jahres in der berliner "neuen nationalgalerie" schien die "lichtburg" der vielleicht würdigste rahmen für ein konzert der besonderen art, und, gott sei es gepriesen, ich hatte keinen grund zu zweifeln.
was hatte ich erwartet? vier männer, die man nicht sieht, hinter großen pulten, hinter denen sie bewegungslos verharren, eine 3d-animation, die das alles verdeckt und das gefühl, endlich einen großen fernseher besitzen zu müssen. wer mit bescheidenen visionen arbeitet, kann nur gewinnen. pünktlich um acht hob sich der vorhang (beziehungsweise, für die freunde der liebe zum detail, zog er sich nach rechts und links auf), und der blick des geneigten zuschauers erfasste: vier große pulte - die königsklasse der sich selbst erfüllenden prophezeihung. zum glück aber waren die musiker noch nicht auf der bühne, und als sie es waren, hat man sie sehr wohl gesehen. gut sogar, nah und lebendig, in seltsam gemusterten neoprenanzügen. das erste stück "nummern" stellte klar: es gab durchaus etwas zu betrachten, auch jenseits der filme im hintergrund, kraftwerk sind menschen, sie bewegen sich, sie schauen angestrengt ins innere der pulte, und was sie dort tun, soll uns egal sein. "nummern" und "computerwelt" klangen ganz ähnlich wie auf dem album, und das waren, egal bei welchen stücken, die besseren momnete des abends. ich schätze die klarheit der struktur in den liedern dieser band, ich schätze nicht die aufgepuschelten "remixes" von denen noch einige folgen sollten, insgesamt aber wurde ich, ich darf das vorausschicken, bestens bedient. das konzert kann man am besten als "best of"-show bezeichnen, kaum ein "hit" wurde vermisst, und ein jeder wurde aufs ausgezeichnetste visuell untermalt. es war ein vergnügen, all diese filmchen zu sehen, mal 90er-jahre-technoid (ebenso überflüssig wie neubearbeitungen der klassischen songs), oft genug aber im retro-gewand der ureigensten kraftwerk-ästhetik. "neonlicht" wurde von lichtwerbungen der 50er jahre umschwirrt, "trans europa express" von einer bewegten graphic novel im stile von "sin city", "tour de france" von historischen aufnahmen des gleichnamigen fahrradrennens (die hasardeure! SO nah am abgrund der alpenklippen!), die "mensch-maschine" von adaptiertem album-artwork im stile der russischen avantgarde. zu "autobahn" gab es sogar eine animation, die aus dem albumcover einen kurzfilm machte, munter tuckerte der käfer, elegant zog der mercedes seine bahn. und - chapeau! - an jeder ecke ragte ein balken ins publikum, sprangen einen lettern an, wurde man von der antenne des "spacelabs" förmlich aufgespiesst. das alles, es war zu vermuten, im wahrscheinlich glasklarsten sound, den je ein konzert zu bieten hatte. bei zwei stunden programm blieb es nicht aus, daß viele der songs mich "abgeholt" haben, und spätestens bei "radioaktivität" verharrte ich mit offenem mund katatonisch im sessel. ein kleiner höhepunkt waren die "roboter", nicht musikalisch da, auf "neu" gemischt, doch allein das visuelle machte atemlos. nach einem gekonnten schließen und wieder öffnen des besagten vorhanges standen dort, wo vorher noch menschen standen (hinter den pulten nämlich) vier roboter, die, hinterlegt von einem ästehtischen roboterfilmchen, nicht weniger wirkten als schlicht faszinierend. und ja, es war ein unterschied zu sehen zwischen mensch und maschine, denn auch, wenn niemand so richtig wusste, was hinter den pulten geschieht, ob sie ihre einkaufszettel schreiben oder vielleicht doch musizieren, war der unterschied offensichtlicher, als ich es vermutet hätte. vorhang zu, wieder auf, "aero dynamik" und ein mir unbekanntes stück grenzenloser ödnis, boingbummtschackmusicnonstop und schon war der spuk vorbei. von mir aus hätten sie noch eine stunde drauflegen können, so begeistert war ich am ende, aber da es sich um alte männer handelt, die um mitternacht in einer zusatzshow weitere einkaufszettel schreiben mussten, hatten sie eine gute ausrede.
so aber hatten jörg und ich noch zeit, in der nähe des essener hauptbahnhofes ein kaltgetränk für die fahrt zu organisieren (wir mussten uns wirklich durchFRAGEN - himmel, ist das hier das ruhrgebiet oder was?) und auf unseren eindrücken schwebend das gleis zu betreten, auf dem unser trans europa express uns abholte, um uns sicher wie auf schienen zurück in die wirklichkeit zu tragen. die bahnhofsschlägerei zwischen schalke und gladbach haben die blau-weißen übrigens klar gewonnen, nur, falls das irgendwen interessiert. war ja irgendwie auch 3D.
Ein <3 geht zurück an den Absender, dafür schmecke ich in jeder Zeile eine zur Verfeinerung dieses Textes angetretene Prise Begeisterung, die mich zum einen bedauern lässt, das es mit Köln nicht klappte, zum anderen aber auch dieses Projekt "Einmal Kraftwerk live sehen" auf die ewig lange Bucketlist setzt, an einem prominenten Platz, versteht sich. Immer wieder denke ich beim lesen, dass ich doch dabei war, so plastisch, so immersiv beschreibst du den Verlauf eines Abends, der wohl fürs erste nicht aus dem Gedächtnis will. Vielen Dank, mein bester.