Zitat von akri im Beitrag #3583Aus meiner Sicht ist es sehr wichtig, dass ALLE Dinge hinterfragt werden können, dass es zu ALLEN Sichtweisen auch eine Opposition gibt. In einer Demokratie zählt am Ende, was sich auf der Basis des Grundgesetzes mehrheitlich durchsetzt. Dies muss dann auch nicht immer allen gefallen…
Ein gleichgeschaltetes „Nur so ist es zu sehen und nicht anders“ wäre verhängnisvoll. Gerade dann, wenn etwa die Medien wie helfende Lakaien der Regierenden wirken würden, bestünde die große Gefahr, dass Teile der Bevölkerung gar kein Sprachrohr mehr finden würden. Schlimmer noch: sie würden sich nicht mehr als Teil DIESER Gesellschaft empfinden und sich mehr und mehr abwenden.
Die im Artikel genannte „deutsche Kaffeehaus-Intelligenzia“ gibt es ja tatsächlich mehr oder weniger stark: eben jene, die alles letztlich in die gewünschte Richtung schönreden/schreiben und sicher im Privatleben nahezu NICHTS von jenem Problemkreis miterleben, denen eben andere alltäglich ausgesetzt sind. Auch mal drüber nachdenken!
Eine „Kaffeehaus-Intelligenzia“ gibt es auf der rechten Seite doch längst auch. Deren Ansichten waren auch vor 2015 so medienpräsent, wie es vor Sarrazin, um mal einen wichtigen Ankerpunkt zu nennen, kaum vorstellbar war. Also lasst uns diesen Quatsch doch endlich mal beerdigen, von der Masse, die in ihren Nöten nicht gehört wird. Es bleibt immernoch die Frage, warum diese Nöte überall da am lautesten geäußert werden, wo der Migrationsanteil am geringsten ist. Und was ist eigentlich mit der Masse, die sich von einem nach rechts rutschenden Mainstream bedroht fühlt?
☟ smog in berlin. nichts wie hin. weil du mich küsst, bin ich kein tourist.
Die sog. Oppositionssicht bei der „Seenotrettung“ muss natürlich niemand teilen. Vielleicht hilft aber bei alledem auch ein Blick auf die Situation der „Landrettung“. Alljährlich verrecken, verhungern und verdursten nämlich Millionen Kinder und Menschen. 821 Millionen Menschen hungern weltweit (Stand 2018). Die alle schaffen es gar nicht erst, zu uns zu flüchten. Die findet man auch nicht auf einem Rettungsboot im Mittelmeer, die müsste man schon vor Ort aufsuchen, in der Hoffnung, sie dort überhaupt noch lebend anzutreffen…
Wenn man weiß, dass jeden Tag über 10.000 Menschen an Hunger sterben… dann geht es um ganz andere Dimensionen. Niemand aber schreitet politisch ein, wenn wieder irgendwo der Ertrag ganzer Landstriche an die „zivilisierten“ Länder dieser Welt weiterverkauft wird. Und von der dortigen eher etwas überfressenen Bevölkerung kostengünstig genutzt wird, die sich ob dieses Frevels zumindest moralisch stützend in alternativloser „Seenotrettung“ gefällt…
Ein Kleinbauer benötigt eben zur Eigenversorgung zwei Fußballfelder. Und ein Viehhirte braucht auch seine Weideflächen. Indigene Gruppen benötigen ihre Waldfrüchte und Wildpflanzen. Aber sie alle werden heute zunehmend vom Land vertrieben. Dieses Land brauchen bzw. vereinnahmen letztlich aber all jene „Seenotretter“, die natürlich keine „Landretter“ sein möchten.
Das alles ist ähnlich lustig wie der gelegentliche Kauf von Äpfeln direkt vom Bauern oder Karotten vom Biohof. Und das in einem Land, in dem nur noch 25 % des konsumierten Obst und Gemüses innerhalb der eigenen Grenzen erzeugt wird. Da wird dann – statt Eigenanbau - lieber mit Ökostrom der Rasen wöchentlich plattgemäht und ein Tofuwürstchen auf den Grill geworfen oder auf dem als Parkplatz für den Zweitwagen zugepflasterten Vorgarten per Gaskartusche alles Grünzeug gründlich abgeflammt, damit auch alles seine Ordnung hat. Dafür hat es dann ja die Spende für den WWF…
Zynisch gesagt ist alles so ähnlich, als würde ich ein Asylantenheim anzünden und nach dem Tod aller Bewohner einem noch aus der Schule zurückkehrendem Flüchtlingskind einen Kartoffelsalat mit Limo anbieten und ihm einen Zeltplatz im Garten geben. Und in den örtlichen Medien tönt es dann: „Hilfsbereiter Dorfbewohner XY bietet obdachlosem Flüchtlingskind eine Bleibe an“.
Mitunter werde ich das Gefühl nicht los, das größere Teile der Realität unbewusst oder absichtlich komplett ausgeblendet werden, um das eigene Dasein halbwegs ertragen zu können. Das ist dann wie bei der nötigen Hausarbeit: man lässt alles wochenlang vergammeln und liegen, erfreut sich aber daran, wenigstens einmal seinen Schreibtisch aufgeräumt zu haben. In diesem Sinne: Ship ahoy!
"Good taste is the worst vice ever invented" (Edith Sitwell)
Ich erinnere nochmal daran, dass der Ausgangspunkt die Verhaftung einer Kapitänin ist, die eine Gefängnisstrafe zu befürchten hat, für etwas was allgemeiner Konsens sein müsste. Hier werden fundamentale (haha, christliche, westliche) Werte in Frage gestellt, mit der infamen Behauptung gerade diese zu verteidigen.
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Lieber akri, Ich glaube, die Metapher, die du suchtest, funktioniert so: Was hier gerade passiert, ist als ob man Jahrzehnte lang tatenlos zugeschaut hat, wie ein Kohlekraftwerk Abgase in die Lungen unschuldiger Anwohner bläst. Und jetzt, wo Menschen reihenweise an Lungenkrebs erkranken, sperrt man die Krankenwagenfahrer ins Gefängnis, die die Erkrankten in die Klinik bringen sollen, weil wir das Gefühl haben, die Chemotherapie würde uns ein bisschen zu viel kosten. Aber klar, warum Krankenwagen fahren, wenn man vor dreißig Jahren schon die Fabrik hätte zumachen können.
Von deiner literarischen Verirrung da oben mal abgesehen empfinde ich es im übrigen als Frechheit, im Zusammenhang von diesen Lebensrettern von „Seenotrettern“ in Anführungszeichen zu sprechen. Diese Menschen tun, was europäische Staaten in ihrem völkischen Wahn seit Jahren versäumen: Menschen vor dem qualvollen Ertrinken zu retten.
Zitat von Quork im Beitrag #3594Lieber akri, Ich glaube, die Metapher, die du suchtest, funktioniert so: Was hier gerade passiert, ist als ob man Jahrzehnte lang tatenlos zugeschaut hat, wie ein Kohlekraftwerk Abgase in die Lungen unschuldiger Anwohner bläst. Und jetzt, wo Menschen reihenweise an Lungenkrebs erkranken, sperrt man die Krankenwagenfahrer ins Gefängnis, die die Erkrankten in die Klinik bringen sollen, weil wir das Gefühl haben, die Chemotherapie würde uns ein bisschen zu viel kosten. Aber klar, warum Krankenwagen fahren, wenn man vor dreißig Jahren schon die Fabrik hätte zumachen können.
Von deiner literarischen Verirrung da oben mal abgesehen empfinde ich es im übrigen als Frechheit, im Zusammenhang von diesen Lebensrettern von „Seenotrettern“ in Anführungszeichen zu sprechen. Diese Menschen tun, was europäische Staaten in ihrem völkischen Wahn seit Jahren versäumen: Menschen vor dem qualvollen Ertrinken zu retten.
Mit den „Seenotrettern“ und den „Landrettern“ waren nicht konkret die dort helfenden Personen gemeint (also etwa Schiffsbesatzungen oder Entwicklungshelfer), sondern die hinter den jeweiligen Aktivitäten stehenden Menschen. Gemeint war eben, das man sich mit einem Teilaspekt beschäftigt und nicht mit dem Gesamtproblem. Von jenen 10.000, die täglich verhungern, sind eben nur jene 200 medial sehr interessant, die bei ihrer Landflucht zudem in Seenot geraten.
Zur Metapher zurück: nein, es werden gar keine Kohlekraftwerke geschlossen, die Abgase blasen weiterhin in die Lungen unschuldiger Anwohner. Es will sie auch überhaupt keiner schließen. Und die Krankenfahrer können auch nicht alle in die Klinik bringen, sondern nur unter 3 % der Erkrankten, die sich selbst noch zum Rettungsfahrzeug hin bewegen können. Es käme auch keiner auf die Idee, mit Bussen in so ein Land zu fahren, um alle einzusammeln, die von dort weg möchten. Nein. Niemals.
Das ist dann wie beim erwähnten Karottenkauf im Bioladen. Ist eben machbar, beruhigt das eigene Gewissen und gleicht ein klein wenig die übrigen Ökosünden aus. Zweimal im Jahr mit dem Flieger in den Urlaub, aber Hauptsache, die Brötchen werden per Fahrrad beim Bäcker geholt. Mir kommt die ganze Szenerie eben oft so vor, als würde man gezielt die Augen vor Problemen verschließen und sich dafür ersatzweise etwas an Nebenplätzen abarbeiten. Wie ein Landwirt, der einen Nistkasten für Insekten an seinem Stall aufhängt, um dann mit dem Trecker Pestizide und Gülle aufs Feld zu fahren. Und ja, ich weiß, der Nistkastenaufhänger, Radfahrer oder Bio-Karottenkäufer tut etwas Gutes für sich und seine Umwelt… Leider gilt weiterhin, dass alle, die nicht Teil der Lösung sind, selbst ein Teil des Problems sind. Man kann nicht alles lösen und setzt manch Dingen auch die rosa Brille auf, aber mitunter wäre es ein erster hilfreicher Ansatz, die gegebenen Zustände auch als falsch zu benennen.
"Good taste is the worst vice ever invented" (Edith Sitwell)
Mit der Logik kann man gleich jegliches soziale Engagement über den Haufen werfen. Natürlich liegen die Hauptursachen ganz woanders, und natürlich ist die Rettung von Ertrinkenden noch nicht die Rettung der Welt. Aber selbst die Hilfe, die nur einem Bedürftigen zu Gute kommt, ist doch aller Ehren Wert und sollte nicht durch Metaphern wie „rosa Brille“ denunziert werden. Willst du einem Ertrinkenden sagen: „Sorry, aber dich zu retten hilft den Menschen in deinem Land auch nicht“? Ich verstehe allein diese ellenlangen Argumentationsketten nicht, wo es doch einfach darum geht, dass Menschen für Seenotrettung eingesperrt werden. Das ist durch nichts auf der Welt zu rechtfertigen und es sagt viel darüber aus, wer wir sind.
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Zitat von akri im Beitrag #3596Gemeint war eben, das man sich mit einem Teilaspekt beschäftigt und nicht mit dem Gesamtproblem. Von jenen 10.000, die täglich verhungern, sind eben nur jene 200 medial sehr interessant, die bei ihrer Landflucht zudem in Seenot geraten.
Dem kann man jetzt zustimmen oder nicht (die Flüchtenden, die über das Meer kommen, nehmen in der Tat gemessen an ihrer Anzahl einen überproportional großen Anteil an medialer Aufmerksamkeit in Anspruch, aber das ist doch auch normal, die sind halt auch bei uns physisch präsent), aber am Ende ist es doch, wie Quork sagt, vollkommen irrelevant für die aktuelle Problemstellung. Wenn ich einen Patienten mit Herzinfarkt im Krankenhaus aufnehme und ihm die Herzkranzgefäße freiputze, beschäftige ich mich auch nur mit einem Teilproblem. Aber weder kann ich ihm alle Cheeseburger und Zigaretten der letzten 40 Jahre aus der Hand schlagen, noch kann ich in diesem Moment ein Zigaretten- oder Fettverbot oder eine Breitensportbewegung aus dem Boden stampfen. Was wäre die Option? Deshalb zu sagen "Nö, ich mach die Tür zu und schlaf im Dienst lieber durch, ist ja eh nur ein Teilaspekt"? Und was bringt dich zu der Annahme, dass ich mich nicht auf beiden Ebenen gleichermaßen engagieren kann?
ZitatUnd die Krankenfahrer können auch nicht alle in die Klinik bringen, sondern nur unter 3 % der Erkrankten, die sich selbst noch zum Rettungsfahrzeug hin bewegen können.
Oh, ja, jetzt hast du mich überzeugt. Wir können nicht alle retten, also lasst uns diejenigen einsperren, die sich nach Kräften bemühen.
„Ich mach' mir die Welt Widdewidde wie sie mir gefällt ...“ (Pippi Langstrumpf; Astrid Lindgren)
Und nein, ich habe nicht verlangt, dass irgendwelche Retter bestraft werden. Zu bestrafen wären all jene, die diese Zustände mit herbeiführen. Und so tun, als würden sie nur mit zu den Rettern gehören.
"Good taste is the worst vice ever invented" (Edith Sitwell)