Zitat von gnathonemus im Beitrag #6880ich denke, es ist nicht nur mein eindruck ist, dass der kommerz darin immer besser wird - im sinne von effektiver. (bezieht sich auf anorak twin)
Ich bekomme schon auch Bauchschmerzen, wenn ich eine Zeitungsanzeige sehe, in der ein Arbeitgeber damit wirbt, dass man bei ihm auch Karriere machen kann, wenn man nicht die Religion oder Hautfarbe der Mehrheitsgesellschaft hat, um dann in der Fußzeile zu sehen, dass es sich um einen Satanskonzern wie Amazon handelt. Andererseits gibt es Firmen wie Barilla (zumindest noch vor ein paar Jahren), deren seniler Seniorchef sich mit der Aussage hervortut, dass ihn die vielen Schwulen in der Werbung nerven und sich sein Unternehmen an traditionelle Familien wende, die Schwulen sollen doch andere Nudeln essen. Was ist schlimmer?
sag du's mir? irgendwie sind das äpfel und birnen. mir persönlich geht herr barilla am allerwertesten vorbei, was ich von ausbeuterschwein bezos nicht behaupten kann.
Zitat von King Bronkowitz im Beitrag #6884[quote="G. Freeman"|p248441]Musikalisch hat es nie nie nie ansatzweise eine so vielfältige, politisch interessierte, facettenreiche Zeit gegeben,
Ich mußte das erstmal verdauen, und könnte jetzt einen ellenlangen Riemen schreiben um zu belegen, was an dieser Behauptung alles falsch ist, doch ich habe gerade keine Lust dazu. Aber bei aller persönlichen Wertschätzung: von jemandem, der sich professionell mit Musik beschäftigt, ist diese Aussage - vor allem in Verbindung mit dem Wörtchen "ansatzweise" - von einer geradezu haarsträubenden Ignoranz.
We don't believe in anything we dont stand for nothing. We got no "V" for victory cause we know things are tougher.
(Iggy Pop/James Williamson: "Beyond The Law")
---------------------------------------------------------------- From the river to shut the fuck up.
Naja, vielleicht ist es gerade die professionelle Beschäftigung, die eine größeres Augenmerk auf verschiedene Strömungen ausmacht. Ich würde mal platt sagen: Heutzutage gibt es medial von allem mehr. Die Filterfunktion von klassischen Medienkonzernen hat seine Funktionalität zu großen Teilen eingebüßt, was nicht heißt, dass davon nichts mehr übrig wäre.
Wenn es darum geht, wie groß die Verbreitung politisch aufgeladener Kunst und Kultur in der Gesamtbevölkerung oder der Gesamtheit der Jugendlichen und jungen Erwachsenen heutzutage ist, da weiß ich nicht, ob wir da augenblicklich einen absoluten Höchstpunkt erleben. Ich weiß es deshalb nicht, weil ich das weder für die heutige Zeit, noch für vergangene Jahrzehnte wirklich beurteilen kann.
Wenn man bspw. die ausgehenden 60er nimmt, werden die vornehmlich assoziiert mit Medien, die die damaligen gesellschaftlichen Umbrüche begleitet und vorangetrieben haben. Allerdings stellen diese nur einen Teil der damaligen Medienlandschaft dar. Andere stehen hingegen eher im Schatten oder sind sogar nahezu vollständig vergessen, waren aber in ihrer Zeit deutlich relevanter.
☟ smog in berlin. nichts wie hin. weil du mich küsst, bin ich kein tourist.
Zitat von King Bronkowitz im Beitrag #6884[quote="G. Freeman"|p248441]Musikalisch hat es nie nie nie ansatzweise eine so vielfältige, politisch interessierte, facettenreiche Zeit gegeben,
Ich mußte das erstmal verdauen, und könnte jetzt einen ellenlangen Riemen schreiben um zu belegen, was an dieser Behauptung alles falsch ist, doch ich habe gerade keine Lust dazu. Aber bei aller persönlichen Wertschätzung: von jemandem, der sich professionell mit Musik beschäftigt, ist diese Aussage - vor allem in Verbindung mit dem Wörtchen "ansatzweise" - von einer geradezu haarsträubenden Ignoranz.
Ich halte Freemans Aussage auch für so nicht haltbar, als interessierter Mensch konnte man sicher zu jeder Zeit fündig werden. Der Unterschied zu heute liegt wohl darin, dass man heute nicht mehr so stark danach suchen muss. Der frühere Medienfilter und die damit einhergehende Möglichkeit der Industrie, die Popkultur durch gezielte Hypes und das Totmelken von angesagten Strömungen massiv zu steuern, ist vom Internet teilweise abgeschafft worden - wobei es Filterblasen durch geschickt versteckte Algorithmen auch noch gibt. Dennoch ergibt sich mittlerweile ein viel diversifizierteres Bild als noch vor 20 Jahren. Das sichtbarste Zeichen dafür ist die mittlerweile komplette Absenz irgendwelcher popkulturell zusammengeleimter Peer Groups: es gibt nicht mehr die Metaller, Punker, Britpopper, HipHopper, Technoheads, Emos und was es sonst noch so gab. Aus den Klassenzimmern sind die fast verschwunden, ein Blick auf die Clublandschaft (große Metropolen mal außen vor), kann das nur bestätigen. Wer sich auch früher nicht zu einer bestimmten Gruppe zugehörig gefühlt hat, mag das positiv bewerten, mir scheint da jedoch ein bischen Vielfalt verloren gegangen zu sein. Heute haste leichter die Möglichkeit, von allem etwas zu probieren - paradoxerweise leidet imho am Ende die Vielfalt, wenn am Ende alle gleich individuell unterwegs sind und es einfach kaum noch nötig ist, sich zu profilieren. Auch führt es imho dazu, dass die Beschäftigung mit Themen immer oberflächlicher wird. Klar sind jetzt heute viel mehr Themen im Vordergrund, und das ist ja per se nicht schlecht, dass viel mehr über alle möglichen Randerscheinungen gesprochen wird, der Halbwertszeit von popkulturellen Phänomenen oder gesellschaftlichen Diskursen ist das eher wenig zuträglich.
Ich persönlich bin fast froh, heute nicht 14 zu sein. Die schiere Menge an Möglichkeiten würde mich vermutlich total überfordern, an meinen Buddies könnte ich mich auch nicht so stark orientieren, da die ja genauso ziellos herummäandern. Nach und nach die Popwelt entdecken zu müssen, fand ich rückblickend nicht verkehrt.
Just a MF from hell.
Rotation:
Cindy Lee - Diamond Jubilee | Being Dead - Eels | Shellac - To All Trains
Zitat von burnedcake im Beitrag #6889Dennoch ergibt sich mittlerweile ein viel diversifizierteres Bild als noch vor 20 Jahren. Das sichtbarste Zeichen dafür ist die mittlerweile komplette Absenz irgendwelcher popkulturell zusammengeleimter Peer Groups: es gibt nicht mehr die Metaller, Punker, Britpopper, HipHopper, Technoheads, Emos und was es sonst noch so gab. Aus den Klassenzimmern sind die fast verschwunden, ein Blick auf die Clublandschaft (große Metropolen mal außen vor), kann das nur bestätigen.
Wenn man das bedauert, gerät man schnell ins ewiggestrige Fahrwasser, aber ich tue das trotzdem. Doch vielleicht war das ja auch der Sinn und Zweck dieser Phänomene: daß sie temporär waren und zum Zweck entstanden sind, sich irgendwann zu amalgamisieren.Ich war ja auch eher ein Grenzgänger, weil ich verschiedene musikalische Prägungen in meiner Jugend erlebt habe, und fühlte mich immer mal wieder mehr dieser oder jener Gruppe zugehörig, was aber nicht von allzuvielen inneren Zerreißproben begleitet war, da - wie an anderer Stelle beschrieben - zu Beginn der Neunziger unter dem Eindruck des aufkommenden Rechtsextremismus nach der Wiedervereinigung die ganzen Subkulturen im Kampf gegen den gemeinsamen Feind eh zusammenrückten und personelle Überschneidungen immer gegeben waren. HipHopper gingen plötzlich auf Hardcorekonzerte, Hardcoretypen hörten HipHop, und alle zusammen gingen zumindest in der Provinz zu Extrem - Metal - Konzerten. Aber was gerade Ende der 70er/Anfang der 80er an neuen Stilen mit ästhetischer und politischer Aussagekraft entstand, das noch abzufeiern ist keine plumpe Nostalgie, sondern ein Fakt. In dieser Zeit entstand vieles, was noch bis heute herrüberreicht, und das noch unter erschwerten Bedingungen. Die Akzeptanz war - gelinde gesagt - noch nicht mal annährend so hoch wie heute, politische Aussagen waren tatsächlich noch ein Wagnis, um das Ansehen eines Mannes mit Einfluß öffentlich zu ruinieren, genügte noch der schiere Verdacht, er wäre schwul ... und einen Markt für neuentstandene Subkulturen mußten sich diejenigen selbst schaffen. Fanzines, D.I.Y., Labelgründungen. Und damals gab es tatsächlich noch Indielabels (bevor dieser Begriff in der Belanglosigkeit verschwand), die komplett unabhängig agierten und ihren KünstlerInnen die komplette Kontrolle über ihren Output ließen, anstatt wie heute Sublabels von Majors zu sein. Insofern fällt mir bei Freemans Aussage tatsächlich erstmal die Hose runter. Ich gebe gerne zu, daß heute nicht alles so schlecht sein mag, wie viele (so auch ich) immer behaupten, und daß ich mich bei moderner Musik natürlich nicht mehr auskenne, auch, weil ich mich schon seit 40 Jahren (Tatsache) mit allen möglichen Arten von Musik beschäftige und halt irgendwann die Festplatte voll ist ... aber es hat nunmal einen guten Grund, warum das gerade die allertollste, großartigste Zeit aller Zeiten ist. Das ist sie nämlich, weil irgendwann mal Menschen damit angefangen haben, sie dazu zu machen, und das nicht nur ansatzweise.
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(Iggy Pop/James Williamson: "Beyond The Law")
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In der deutschen Nachkriegszeit war Popmusik noch eine Flucht aus dem grauen traurigen Alltag.
Dies änderte sich in den 60ern ganz langsam. Die Berliner Mauer wurde errichtet, es gab Studentenproteste und die Kubakrise sowie den Vietnamkrieg. Man hörte Dylan und Joan Baez oder „Respect“ von Aretha Franklin. Freddy Quinn gab mit "Hundert Mann und ein Befehl" quasi ein Antikriegslied zum Besten. Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke, dem Schah-Besuch und der Gründung der RAF schwenkten dann aber viele hiesige Musiker dazu um, sich auch politischen und sozialen Themen zu widmen.
Die 70er schufen mit "Ton Steine Scherben" eine Politrockband, deren Songs wie "Macht kaputt, was euch kaputt macht", "Keine Macht für Niemand" oder "Aus dem Weg, Kapitalisten! Die letzte Schlacht gewinnen wir!" bei der damaligen Jugend Gehör fand. Die Band setzte sich für die Rechte der Arbeiter ein, sie sympathisierte gar mit der KP von Mao. Ton Steine Scherben veröffentlichten ihre Alben damals schon auf einem unabhängigen Label. Konzerte spielte man damals auch zum Selbstkostenpreis – und nicht, um damit Geld zu scheffeln. Hinzu kamen diverse Liedermacher, die über Politik sangen. Ein Franz Josef Degenhardt beschäftigte sich mit dem Prager Frühling, der sozialen Ausgrenzung der Unterschicht und er übte Kritik an der griechischen Militärdiktatur. Auch Sänger wie Hannes Wader oder Konstantin Wecker nahmen in Songs politisch klar Stellung. Wolf Biermann durfte wegen seiner Regierungskritik in der DDR nicht mehr auftreten und wurde dort gar ausgebürgert.
Beim Blick auf die 80er muss man an die Neue Deutsche Welle denken. Künstler wie Udo Lindenberg thematisierten den DDR-Regierungschef Erich Honecker und den Rechtsradikalismus; eine Band wie BAP behandelte in Songs wie "Kristallnaach" die Verführbarkeit der Menschen durch autoritäre Ideologien. Herbert Grönemeyer kritisierte im Song "Amerika" die US-amerikanische Außenpolitik. Hinzu kam die Punkmusik. Dies auch mit Bands, politisch links standen oder gar als linksradikal einzuordnen waren. Slime oder Razzia etwa spielten mit Songs wie "Deutschland muss sterben", "Keine Führer" oder "Neo-Nazi" gegen bestehende Verhältnisse an. Bands wie die Ärzte oder die Toten Hosen rückten nach…
Als in den 90ern der Rap aufkam, wandelte sich alles. Zwar ging es oft um soziale Themen wie Drogen, Armut oder Prostitution – aber alles oft ohne jede politische Dimension. Da glich alles eher einer Verherrlichung des Gangsterdaseins.
Blickt man heute auf die Musik, wird sie womöglich im Rap ab und an einmal politisch. Politisch relevante Themen wie die Flüchtlingskrise, die Gefahren durch moderne Kommunikation und Technik, das Aufkommen rechter Parteien, die Klimakatastrophe, etc. finden sich allerdings kaum.
Viellicht liege ich damit auch falsch; es gibt ja Songs wie „Keine Parolen“ von Dendemann:
"Good taste is the worst vice ever invented" (Edith Sitwell)
Dass es in den letzten 50 - 60 Jahren immer politisierte Popkultur gab, war bereits vorher unstrittig. Vielmehr geht es um die Frage, inwieweit Popkultur insgesamt heutzutage oberflächlicher geworden ist. Um das festzustellen reichen m.E. Einzelbeispiele nicht aus.
☟ smog in berlin. nichts wie hin. weil du mich küsst, bin ich kein tourist.
na ja, "oberflächlich" ist natürlich kein objektives kriterium, aber dass die kommerzialisierung im charts-/streamingbereich zugenommen hat, ist - finde ich - unverkennbar (d.h. hitproduktion am reißbrett, zugeschnitten auf die algorithmen der streaming-plattformen, an die aufmerksamkeitsspanne und das hörverhalten der konsumenten angepasst, riesige songwriter- und produzententeams, die nach erfolgsgarantie zusammengestellt werden und wenn der ganze k-pop-wahn weiter um sich greift, seh ich eh schwarz, dass irgendwann mal wieder was brauchbares in den charts auftaucht).
das gute ist, dass man als konsument nicht auf diesen ganzen scheiß angewiesen ist und dass es inzwischen für künstler so einfach wie nie ist, musik zu veröffentlichen. dann ist es aber auch wieder eine krux, weil alles so wahnsinnig unübersichtlich ist. aber sobald man sich von dem gedanken verabschiedet hat, dass man eh nie einen halbwegs umfassenden überblick haben wird, lebt es sich als konsument zumindest ganz gut. traurig ist wiederum, dass sich die künstler mit ihren 312 bandcampverkäufen und 2 1/2 mio. streamingaufrufen nicht annähernd eine existenz aufbauen können.
die charts haben bis in die 90er jahre hinein ja noch einen breiten mainstream abgebildet, und mit ihm die von diesem einverleibten kommerziell erfolgreichen subkulturen. die heutigen charts würde ich eher als zum genre geronnenes segment der musiklandschaft sehen, so wie auch "indie" ja nicht mehr indie ist (wie weiter oben schon ausgeführt wurde). aus diesem grund kann ich sie auch nicht als gradmesser für die zunehmende/abnehmende beliebigkeit der musik insgesamt betrachten. die charts haben sich im zuge ihrer zunehmenden irrelevanz immer weiter von der reinen abbildung des musikmarkts hin zur seiner ungeniertesten form der ausschlachtung entwickelt. andere genres müssen komplizierte images entwickeln, deren authentizität ständig auf dem prüfstein steht - chartsmusik will nicht mehr sein, als sie ist, und muss es auch nicht.