"Man sieht, und das ist eine Wahrheit, die einfach mal ausgesprochen werden muss, Tocotronic-Fans an, dass sie Tocotronic-Fans sind"
oh je, da könnte man dann eigentlich schon mit lesen aufhören, aber sie schleimt sich ja dann doch noch rechtzeitig ein, damit sie nicht allzu viel haue bekommt.
Habt ihr alle ein Abo von Z+ oder höre ich euch im Hintergrund mit dem Zeitungspapier rascheln? Die Anrisse von euch motivieren mich jetzt nicht, nochmal ins Wohnzimmer zu gehen, um nachzuschlagen.
"Happy Holidays... is what terrorists say. Merry Christmas, from Avery and Jack."
Der Artikel ist eigentlich frei verfügbar. Kannst Du den nicht lesen?
Sonst:
ZitatEin unentschlossener Seitenscheitel Warum bloß sind die traurigen Männer in Deutschland so glücklich, wenn sie jetzt wieder ein neues Album der Band Tocotronic hören können?
Sollten Tocotronic irgendwann entscheiden, sich auflösen zu wollen, wird das deutsche Feuilleton das zu verhindern wissen, entweder durch Waffengewalt oder einen offenen Brief oder aber dadurch, dass Feuilletonisten die Tocotronic-Mitglieder nach und nach selbst ersetzen. Der Literaturkritiker, der auf Partys gerne erzählt, dass Dirk von Lotzow "schon ganz groß texten kann", würde seinen Bass aus dem Keller holen ("verlernt man ja nicht"), und der Musikkritiker würde ins Mikrofon nuscheln, bis ihm die natürlich immer noch recht langen Haare ins Gesicht fallen.
Das Faszinierende an Tocotronic ist die Faszination für Tocotronic. Sie sind eine Punchline und eine Milieubeschreibung, Berliner Stadtmagazine entblöden sich nicht, mit "Generation Tocotronic" ihr Cover zu titeln, so als würden Radiosender mit Musik aus den Neunzigern ständig Digital ist besser spielen statt die immer selben zwei Powerrock-Songs von Pearl Jam. Tocotronic haben jedenfalls nicht nur offenbar eine Generation gegründet, sondern auch ein neues Album rausgebracht, es heißt Nie wieder Krieg, Sie werden das sicher schon erfahren haben, von den Tocotronic-Fans in Ihrem Freundeskreis oder von den Litfaßsäulen dieser Bundesrepublik.
Diese Band steht für ein sehr exaktes Lebensgefühl, das mit Traurigkeit, Tanzflächen und teenage angst zu tun hat, und das Allerlangweiligste und das Allervorhersehbarste wäre natürlich, das jetzt aus Prinzip doof zu finden. Vor allem aber muss man nicht noch mal all die richtigen und deswegen völlig irrelevanten Dinge über den sogenannten Sound dieser Band schreiben, das neue Album klingt für jemanden, der jung und eine Frau ist und deswegen nicht zur Kernzielgruppe dieser Traurigkeit gehört, halt exakt so großartig und verwirrend, wie so ein Album klingen soll. Viel wichtiger scheint doch, dass wir als Gesellschaft endlich mal an den Punkt kommen, an dem wir in einer Debatte, die gerne auch "hart in der Sache, aber bitte verbindlich im Ton" ist, die Frage beantworten können: Was zur Hölle macht die traurigen Männer in Deutschland so glücklich über Tocotronic?
Man sieht, und das ist eine Wahrheit, die einfach mal ausgesprochen werden muss, Tocotronic-Fans an, dass sie Tocotronic-Fans sind, man kann sie also sehr einfach aus dem eigenen Freundeskreis rausfischen und dann ausfragen. Sie haben eine Frisur, die aussieht wie ein Seitenscheitel, der sich im letzten Moment umentschieden hat, dabei sind ihre Ohren auf so eine kokette Art und Weise freigelegt, als wollten sie der Welt zeigen, dass sie Fan der besten Band aller Zeiten sind, die sie jederzeit gut hören können müssen. Sie verschränken ihre Arme im Sitzen und tragen im Winter drei Wochen zu lange noch einen Parka. Mit ihrem ersten unbefristeten Arbeitsvertrag kaufen sie sich Schnürschuhe aus Wildleder, sie tragen allerdings für den Rest ihres Lebens weiter sehr schmale Jeans. Wenn man diese Männer, und ja, ich bleibe dabei, es sind Männer, dann also fragt, was sie in Tocotronic sehen, was in diesen Alben passiert, was man nicht erkennt, wenn man sie im Nachhinein hört, kommt das, was vielleicht schon die halbe Antwort ist auf die Frage nach dem Zauber dieser Band: ein aufrichtiges Zögern. Wann kann man Männer schon mal nach Bands fragen und als Antwort ein Zögern bekommen. Denn Tocotronic haben Zweifeln und Zaudern in Deutschland popkulturell salonfähig gemacht, vor allem eben für Männer, die in der Regel in so einer soliden Neunziger-Sozialisation schwitzende Überkerle auf Bühnen anstarren mussten. Tocotronic aber, und das merkt man ihren Fans bis heute an, sind eine Art safe space für Unsicherheit. Für völlig unironische Uncoolness, und das muss man völlig unironisch toll finden.
Das, was für traurige Männer über 35 vielleicht Tocotronic sind, ist für traurige Frauen unter 30 wie mich Feminismus, und wenn man beides zusammenbringt, kommt etwas sehr Versöhnliches raus, und was kann man anderes brauchen als Versöhnlichkeit nach so einem Text wie diesem. Man hat sich in den vergangenen Jahren ja wundreflektiert im Bezug auf Patriarchat und Männlichkeitsrollen, es fielen furchtbare Wörter wie "Empowerment" und auch "Role-Models", so als ließe sich die Krise mit schlechter Sprache abwenden. Tocotronic haben einen urfeministischen Männlichkeitstypus in die Welt reingesungen zu einer Zeit, in der auf die Vergewaltigung der eigenen Ehefrau in Deutschland noch Straffreiheit stand. Tocotronic machen Musik für Männer, die es ertragen, nicht so zu sein, wie Männer eigentlich sein sollen, und stattdessen: nachdenklich, zögerlich, unsicher. Vielleicht waren Tocotronic schon Pop-Feministen, bevor es das Phänomen überhaupt gab. Und vielleicht haben wir Glück, und sie werden sich nie auflösen wollen. Denn wenn man eins braucht, dann Jungs, die Bands entdecken, die ihnen zeigen, dass man auch nicht können wollen darf, vor allem wenn das Leben manchmal grausam ist.
Bei mir war auch eine Paywall. Bertl, LFB, ich...alle forenbekannten Tocotronic-Hooligans wurden ausgesperrt. Zufall? I don't think so. Zeit Online fürchtet uns.
Heavy Rotation → ◉ Fleetwood Mac - Tango in the Night ◉ Bonobo - Black Sands ◉ The Decemberists - As It Ever Was, So It Will Be Again ◉ Interpol - Our Love to Admire ◉ Skeewiff - Something Like That?
ich hatte bisher noch so überhaupt keine lust, mich mit dem album auseinanderzusetzen. und statt es zu erzwingen, warte ich einfach mal ab. erkenntnisse wie "mehr druck als das rote album" und sachte gezogene vergleiche zu "drüben auf dem hügel" könnten mittelfristig hilfreich sein, mein interesse zu wecken.
Das würde mich auch interessieren. Überhaupt fänd ich es ganz schön, als Heft-Abonnent auch die digitalen Versionen nutzen zu können, zumindest von den Artikeln die genau so auch im Heft stehen. Da mag ich ungern nochmal bezahlen.
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