Ich finde gendern prinzipiell erstmal gut, versteht mich nicht falsch. Ich glaube nur, es bringt paradoxerweise nix. Am Ende wird man abwarten müssen, ob die nachfolgenden Generationen die krustigen Denkstrukturen ablegen können, die dazu geführt haben, dass man unbedingt die Unterschiede so deutlich benennen muss - und ob man sich damit nicht selbst irgendwie ein Ei ins Nest legt langfristig - denn die Unterschiede zu überwinden sollte ja eigentlich das Ziel sein, nicht die Unterschiede zu zementieren. Ich befürchte, dass eine Gesellschaft dadurch eher auseinanderdriftet, wenn sich alle Blasen hinter ihrer gewünschten individuellen Zugehörigkeit vermauern. Ich sehe da eher eine Wiederholung der althergebrachten Denkmuster, sozusagen die Neuauflage der alten Dorffeindschaften.
Just a MF from hell.
Rotation:
Cindy Lee - Diamond Jubilee | Being Dead - Eels | Shellac - To All Trains
Die Gefahr der Grüppchenbildung sehe ich auch und die damit verbundene Gefahr der Division der Gesellschaft. Ich kann mich erinnern, wie ich als Kind mit meinen Eltern auf einer Demo gegen Rassismus war, und wir dort angeschrien wurden, weil wir dem „Frauen- und Lesbenblock“ zu nahe gekommen seien. Schon damals gab es das Problem, dass aus lauter Identitätspolitik, die an sich nicht unwichtig ist, das Große und Ganze übersehen wurde. Allerdings sehe ich nicht, inwieweit das Gendern da mit reinspielt. Es spaltet zunächst BefürworterInnen von GegnerInnen. Das ist im Diskurs aber normal.
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Ein sehr interessantes Thema, für mich auch deswegen, weil ich gerade ‚Invisible Women‘ lese.
Ich finde das Gendern allgemein gut, wobei die Ausdrücke (Leser/innen) zunächst etwas gewöhnungsbedürftig sind. Aber das wird schon. Mir war früher nicht so bewusst, wie sehr das Geschlecht in der deutschen Sprache eine Rolle spielt, vor allem bei Berufstiteln. Im Englischen ist das ja anders, wobei die Assoziation da eine größere Rolle spielt und der Mann immer noch das Maß der Dinge ist, vor allem bei wissenschaftlichen Berufstiteln. Hat natürlich viel mit Geschichte und (z.T. bewusst gelernten) Assoziationen aus der Kindheit zu tun. Wie viele denken bei ‚Scientist‘ schon an Marie Curie oder Daphne Jackson anstatt an Albert Einstein? Von daher, wie schon oben erwähnt, ist die explizite Ausschreibung von Stellen für Männer und Frauen schon wichtig, ob jetzt durch den Berufstitel oder durch male/female (was allerdings such ‚non binaries‘ auslässt).
Was die allgemeine Sprache betrifft: Ich gebe mir Mühe, so inklusiv wie möglich zu sein, finde aber auch, dass man frei reden können sollte ohne jede mögliche Konstellation vorher durchdacht zu haben. In ein Fettnäppchen zu treten ist menschlich und schon ok, so lange Verständnis auf beiden ‚Seiten‘ vorhanden ist. Das gilt nicht nur fürs Gendern.
Zitat von burnedcake im Beitrag #17Auf der anderen Seite kann man ganz klar erkennen, dass hier auch eine "Revolution" der wenigen gestartet wird. Im allgemeinen Sprachgebrauch (also dann, wenn Menschen tatsächlich miteinander REDEN), ist das Gendern NICHT angekommen. Das Gendern ist also eine bislang rein schriftliche Veränderung. Das zwar mittlerweile einigermaßen konsequent, es wird in politischen Beschlüssen gegendert, in den Medien, im Internet, in öffentlichen Publikationen jeder Art. Trotzdem reden die Leute noch immer davon, dass sie jetzt zum Bäcker, zum Friseur oder zum Arzt gehen. Die gesprochene Sprache verändert sich wesentlich weniger schnell als die ausgedachte, neu eingeführte. Wenn überhaupt.
Die Umgangssprache neigt ja zur praktischen Vereinfachung, von daher hat es eine Verkomplizierung generell schwer, sich durchzusetzen. Das ist in meinem Umfeld genauso, und mir wäre es regelrecht peinlich zu Gendern. Zumal es ja schon eine seit Jahrzehnten bewährte Form gibt, die von allen verstanden wird, die die deutsche Sprache halbwegs beherrschen. Bei mir kommt dazu, dass meine Muttersprache Bairisch ist, und Gendern auf Bairisch ist für mich eine gruslige Vorstellung. Ich habe den Eindruck, dass Gendern und Dialekt / Mundart generell nicht zusammengeht.
Im beruflichen Umfeld spielt sich bei mir fast alles auf Englisch ab, das ist das ohnehin praktisch kein Thema, wie Jewel ja schon schreibt. Es gibt ein paar Ausnahmen (actress, policewoman), aber ansonsten sind Berufsbezeichnungen zur allgemeinen Zufriedenheit generisch. Das mag auch damit zusammenhängen, dass es mit "the" auch nur einen generischen Artikel gibt.
Was das Gendern in Medien und Politik angeht: Ja, es stört mich. Der eine verhaspelt sich, der andere benutzt das als zusätzliche Füllwörter, um seine Schachtelsätze noch weiter zu verlängern und mit noch mehr Worten noch weniger zu sagen (Was ist eigentlich das Plural von "Wort" - "Worte" oder "Wörter"?). In geschriebenen Texten stört es den Lesefluss. Es stört mich aber nicht so sehr, dass ich jedesmal ein Fass aufmachen und mich echauffieren müsste. Ich lasse es halt über mich ergehen. Es wäre mir auch zu albern, deswegen z.B. mein ME-Abo zu kündigen.
die wahrnehmung, dass sich gendern in der gesprochenen sprache nicht durchsetzt, hängt, wenn ich das alles hier lese, anscheinend sehr vom eigenen umfeld ab. in meinem wird recht konsequent gegendert. und zwar so sehr, dass meinem freund sofort auffiel, dass er es als einziger nicht machte und sich inzwischen daran angepasst hat.
Die gesprochene Lücke finde ich in den meisten Fällen so leicht machbar und stört so wenig, dass es mir schwerfällt, die Aufregung der GegnerInnen zu verstehen - also bei denen, die wirklich vehement dagegen sind.
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zuallererst mal freue ich mich, dass dieses forum wie so oft den ort bildet, an dem man solche themen tatsächlich verhandeln kann, ohne gleich auf die eine oder andere weise im abseits zu stehen. ich sehe durchaus einen sinn im gendern, und finde, dass einem nicht der pimmel abfällt, wenn man es im rahmen seiner möglichkeiten wenigstens versucht, um zu schauen, was auf dauer funktioniert und was nicht. die leute in meinem umfeld, die sich am lautesten über die "sprachverschandelung" beschweren, sind auffallend häufig auch jene, die gedankenlos schlechte metaphern und noch schlechteres denglisch nachplappern, schnell mal ein adjektiv zum partizip ohne verbmutter machen ("hahnebüchend, sag ich dir!"), und ohnehin schnell schwierigkeiten mit grammatischen feinheiten jenseits der grundfunktion "subjekt-prädikat-opfer" bekommen. die ÖR, und dort insbesondere die nachrichten, waren als kind für mich immer der maßstab präziser sprache; darum könnte ich mir vorstellen, dass jenseits aller nörgelnden boomer die nachwachsende generation den glottisschlag durchaus als gegeben annehmen könnte. ich würde mich freuen. und wer sich darüber beschweren will, bekommt von mir eine in schweinsleder gebundene, sehr lange liste an sprachlichen nachlässigkeiten, die es meiner ansicht vorrangig anzugehen gilt, bevor man sich am gesprochenen sternchen abarbeitet. streckenweise klingen die heutigen radionachrichten für mich wie ein schulaufsatz in der neunten klasse - allein der schlurige umgang mit den grammatischen zeiten treibt mich regelmäßig die wände hoch ("er saß im gefängnis, weil er seine frau umgebracht hat").
Zitat von CobraBora im Beitrag #25(Was ist eigentlich das Plural von "Wort" - "Worte" oder "Wörter"?)
wenn sie auf einem haufen oder im duden rumliegen, sind es "wörter"; im sinnzusammenhang werden aus wörtern "worte" (aphorismen, zitate, goethe etc). s.a.: große worte großer geister etc
Zitat von tenno im Beitrag #28die leute in meinem umfeld, die sich am lautesten über die "sprachverschandelung" beschweren, sind auffallend häufig auch jene, die gedankenlos schlechte metaphern und noch schlechteres denglisch nachplappern
Danke. Sich über die Sprachverhunzung durch das Gendern aufregen, um dann im selben Satz anzufügen, daß es für sie keinen Sinn macht.
We don't believe in anything we dont stand for nothing. We got no "V" for victory cause we know things are tougher.
(Iggy Pop/James Williamson: "Beyond The Law")
---------------------------------------------------------------- From the river to shut the fuck up.
Ich wundere mich bei diesem Thema immer wieder darüber, dass die Debatte häufig aus dem Lager derer, die gegen das Gendern sind, als so radikal und kompromisslos wahrgenommen wird. Es ist fast immer eines der ersten Argumente gegen das Gendern, dass die Verfechter:innen des Genderns so aggressive Debatten führten. Vielleicht lebe auch ich in einer nicht repräsentativen Blase, aber mir begegnen wirklich so gut wie nie aggressive Gender-Warriors. Im Gegenteil erlebe ich verbale Entgleisungen selbst mehr oder weniger ausschließlich von Leuten, die sich über das Gendern aufregen. Dabei beziehe ich mich jetzt nicht auf die zivilen Kommentare hier sondern auf Zuschriften, die ich im Job bekomme oder Beiträge im Internet. Es gibt im Internet durchaus eine teils unangenehme Debattenkultur aber gerade beim Gendersternchen nehme ich sie mit einer sehr eindeutigen Schlagseite wahr.
Ich staune auch immer wieder darüber, dass die Einführung des Genderns von manchen Menschen als eine Art Sprachendiktatur oder ein durch eine Elite aufgedrücktes Verhalten empfunden wird, das von oben durchregiert wird. Dabei sehen doch die offiziellen Sprachregeln (noch) gar kein Gendersternchen vor und nur in gelegentlichen Fällen entscheidet eine Stadtverwaltung oder eine Organisation, dass ab jetzt in allen öffentlichen Verlautbarungen gegendert wird. Dass irgendwer irgendwem vorschriebe, wie in der Freizeit zu sprechen sei, ist mir noch nicht untergekommen. Vielmehr ist doch die wachsende Verbreitung des Genderns das, was so viele Sprachpuristen immer wieder beschwören: Ein natürlicher Prozess der Anpassung der Sprache. Eine macht was vor, der nächste macht es nach. So geht das halt und irgendwann machen es auch Anne Will oder mein siebzigjähriger Vater.
Was die große Diskussion darum angeht, ob Sprache die Realität wirklich maßgeblich beeinflussen kann, ob Gendern also "was bringt": Es gibt ja viele Beispiele, die sehr wohl zeigen, dass Menschen Dinge oder Aspekte wahrnehmen, für die sie ein Wort haben. Und umgekehrt auch nicht oder weniger wahrnehmen, wofür sie keine Worte haben. Und wahrnehmen verändert Handeln. Wenn ich klar benenne, dass es unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichen Privilegien und Marginalisierungserfahrungen gibt, dann mache ich mir die unterschiedlichen Ebenen bewusst, die auf diese Personen zu jedem Zeitpunkt einwirken. Aus dieser Ecke kommt ja auch der (unter anderem hier) viel kritisierte Ansatz, auf diese Unterschiede so deutlich hinzuweisen und damit quasi erst die Grüppchenbildung zu betreiben. Genauso wie das Gendern allein nicht die Gleichberechtigung der Geschlechter herbeiformulieren kann, wird das undifferenzierte Adressieren aller Menschen ohne Rücksicht auf ihre Identitäten auch nicht die Kategorien überwinden, in die wir Menschen ganz offensichtlich unsere Mitmenschen einsortieren und nach denen wir oft unser Verhalten anpassen. Ähnlich verhält es sich ja auch mit anderen Identitätsmerkmalen. Wenn man Leuten wie Alice Hasters oder Kübra Gümüsay zuhört, dann geht es denen zum Beispiel ganz viel darum, dass Rassismen schwer zu kritisieren oder zu bekämpfen sind, solange alle so tun, als sähen sie unterschiedliche Hautfarben gar nicht.
Dass einzelne Leute Grüppchenbildung und Distinktionsverhalten immer mal auch übertreiben und damit einer Bewegung in Richtung Gleichberechtigung im Weg stehen, mag wahr sein und ist sicher als Mahnung lehrreich. Ich fände es aber doch ein bisschen verfehlt, wenn wir uns von solchen Anekdoten von offensichtlichen Überreaktionen davon abbringen ließen, ein Sternchen oder Doppelpunkte zu setzen, um dem dritten Geschlecht sprachlichen Raum zu geben.
Zitat von King Bronkowitz im Beitrag #31Danke. Sich über die Sprachverhunzung durch das Gendern aufregen, um dann im selben Satz anzufügen, daß es für sie keinen Sinn macht.
Das oft als versteckter Anglizismus verfemte „Sinn machen“ gab es im 18. Jahrhundert schon bei Lessing zu lesen.
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