Dick Johnson ist tot (USA 2020, R: Kirsten Johnson, D: Dick Johnson, Kirsten Johnson) Wie begleitet man den Verfall eines intelligenten Mannes? Im Falle von Richard Johnson ist das einfach, wenn die Tochter Dokumentarfilmerin ist: Man dreht einen Film - und lässt den eigenen Vater sterben, und zwar auf möglichst skurrile Art und Weise. Wer nach dieser Prämisse nun Schenkelklopfhumor erwartet, irrt. Denn auch wenn Netflix den Dokumentarfilm so verkauft, steckt doch mehr drin als eine Harold-und-Maude-Version, nur ohne Maude. Dick Johnson ist ein blitzgescheiter Psychiater - doch der Mittachtziger verliert nach und nach sein Kurzzeitgedächtnis. Und so beobachtet man nicht nur, wie er filmisch stirbt, man beobachtet auch, wie er tatsächlich stirbt. Wie er seine Praxis aufgeben muss, wie er aus seinem geliebten Haus in die Wohnung seiner Tochter nach New York zieht, wie eine Pflegerin eingestellt wird. Und am Ende wird man vermutlich auch als Zuschauer ein paar Tränen vergießen. Zwischendurch verliert sich der Film dann aber doch ein wenig in der eigenen Idee. Dennoch: Sehenswert! 7/10
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ja, fantastisch. zunächst weiß man nicht was das soll, aber immerhin: eine impressionistische darstellung einer vater-tochter-beziehung - in dermaßen kreativer cinematographie und abenteuerlichem schnitt bekommt man das nicht alle tage ... bis einem klar wird, wie das eigentlich auszudeuten ist. und das ist mal einer der ungewöhnlichsten twists, die ich serviert bekommen habe. reicht zwar nicht ganz an meine filme des jahres ran, aber für die top ten reicht's locker.
she said (maria schrader, 2022)
mit diesem film reiht sich frau schrader bestimmt nicht ganz zufällig in die tradition solcher enthüllungsdramen wie "all the president's men", "spotlight" oder "the post" ein. d.h. den innovationspreis hat sie damit sicherlich nicht angepeilt, aber ihr anliegen ist klar und das hat sie wirklich wunderbar unprätentiös, mit - zwar konventionellen mitteln - aber handwerklich einwandfrei umgesetzt und mit zoe kazan und carey mulligan hat sie zwei darstellerinnen gefunden, die durchaus zu einer veredelung beitragen.
Ich hab den Eindruck, dass Maria Schrader bei dem Film nur Auftragsregisseurin war. In ein paar Interviews der Schauspielerinnen wird sie mit keinem Wort erwähnt.
nö, glaub ich nicht. dieser kurze "kino kino"-beitrag sieht schon danach aus, als sei das wirklich ihr sehr eigenes anliegen gewesen. und so schätze ich sie auch als person ein.
the unbearable weight of massive talent (tom gormican, 2022)
och, finde ich schon ganz sympathisch, wie sich nicolas cage da selbst auf die schippe nimmt (am besten, wenn er mit seinem "wild at heart"-alter ego konfontriert wird). ein hanebüchener spionage-plot mit einer guten schippe action komplettiert das vergnügen.
hatching (hanna begholm, 2022)
überraschung! eine fantasy/horror-groteske aus finnland, die ebenfalls richtig spaß macht: junges mädel, spross einer scheinbaren musterfamilie, deren influencer-mutter das familienglück für social media inszeniert, findet das ei einer krähe, der die mutter den hals umgedreht hat und brütet es aus. das vögelchen, das daraus schlüpft, sorgt dann für ordentlich chaos. das ist einerseits ein schöner großer quatsch, aber der twist - der zwar nicht fürchterlich unerwartbar ist - macht dann nochmal richtig freude.
eine journalistin reist in die heilige stadt mashhad, wo ein serienmörder sein unwesen treibt, der die straßen von sittenlosen frauen (aka prostituierten) "reinigt". das ist viel mehr ein psychologisches drama, als ein thriller, da man den killer bereits recht früh präsentiert bekommt. spannend bleibt es trotzdem, obwohl die erzählweise recht konventionell bleibt. neben der handlung ist die darstellung der iranischen gesellschaft und des systems ein hauptanliegen des films, was in seiner banalität noch schockierender ist. nicht so gut wie der künstlerisch ambitioniertere vorgänger "border", aber durchaus großartig in seiner machart und mit einem wichtigen anliegen.
die schachspieler (satyajit ray, 1977)
der erste film dieses wohl wichtigsten indischen regisseurs, den ich gesehen habe und der ist wirklich meilenweit entfernt vom filmemachen westlicher prägung, sodass ich damit ganz schön gefremdelt habe, aber letztendlich war dann sowohl die reale ebene (der kolonialismus der engländer in indien), als auch die metaphorische (die der schachspieler) einigermaßen deutlich. künstlerisch gibt es sowohl herausvordernde momente genauso wie käsiges zeugs, wie gesangs- und tanzdarbietungen, bei denen man sich fragt, was das soll. aber gut: ist halt ein komplett anderer kulturkreis. kann oder muss man sich daran gewöhnen.
the train (john frankenheimer, 1964)
eine überraschung courtesy of arte. ein durchaus kunstbeflissener nazi-general versucht, kurz vor der befreiung von paris durch die alliierten, kunstwerke aus dem jeu de paume (von renoir über manet bis picasso) per eisenbahn nach deutschland zu entführen. aber die resistance setzt alle hebel in bewegung, um das zu verhindern. der film stellt einerseits wichtige fragen (inwieweit kann man kunst gegen menschenleben aufwiegen), ist aber auch sowohl thriller wie action-drama und das macht ihn so außergewöhnlich wie sehenswert. burt lancaster und jeanne moreau in den hauptrollen tun ein übriges.
Glass Onion (2022) Ich verstehe die teils unterirdischen Kritiken nicht, denn ich habe sehr gelacht, durchweg. Ein witziger und stylisher Film, der meines Erachtens sehr gut funktioniert. Aber ich bin auch ziemlich in Edward Norton verschossen, vielleicht blendet das.
The Innocents (2021) Der Film muss noch sacken. Gut ist er auf jeden Fall, sehr erschütternd, sehrsehr krass - eindeutig nichts für schwache Nerven! Ich bin noch unsicher, was das alles soll, aber vielleicht suche ich auch nach Bedeutung, wo keine sein will. Deshalb vgl. mein erster Satz: Der muss noch sacken.
You all want the whole world to be changed so you will be different.
Sicario 2 (USA/MEX 2018, R: Stefano Sollima, D: Benicio Del Toro, Josh Brolin, Isabela Merced, Jeffrey Donovan, Manuel Garcia-Rulfo, Catherine Keener) Ich weiß schon gar nicht mehr, was mich am ersten Teil gestört hat, das ich nur eine 6/10 gegeben habe. Aber ich komme auch bei der Fortsetzung auf die gleiche Wertung. Liegt es an der Inszenierung? Oder daran, dass hier keine einzige Figur wirklich sympathisch ist? Oder einfach daran, dass ich das alles sehr seltsam fand? Wahrscheinlich ein bisschen von allem... Also: 6/10.
Die letzten Sechs in der Playlist: Honeyglaze - Real Deal || Laura Marling - Patterns In Repeat || Nieve Ella - Watch It Ache and Bleed || Dawn Richard & Spencer Zahn - Quiet In a World Full of Noise || Flip Top Head - Up Like a Weather Balloon || Haley Heyndericks - Seed of a Seed
Liebe Leute, der startet morgen im Kino und ich muss hier nochmal betonen, wie toll der war und allen empfehlen, dieses Wochende da reinzugehen (danach ist aber auch noch erlaubt)
Bevor ich mich mit dem Begriff Heimat auseinandergesetzt habe, bedeutete „Zuhause“ für mich immer eine Art Hub zu haben. Nicht einmal das Haus, in dem ich wohnte, vielleicht nicht einmal die Wohnung, eher das Zimmer, vielleicht sogar nur das Bett. Als Kind dachte ich mir immer, wenn ich das Zuhause verlasse, verbindet sich mit mir, egal wo ich bin, immer eine direkte Linie, die mich auf direktem Wege wieder dorthin führt. Egal, wo ich bin, ich HABE ein Zuhause. Im Zweifel müsste ich nur einmal daran wackeln wie an diesen Staubsaugerkabeln und es zieht mich wieder zurück. Ich durfte aber immer das Glück genießen, es nicht in Frage zu stellen.
Mit Identität hatte das nichts zu tun, mit einem Land oder einer Kultur schon gar nicht. Identitätsstiftend sind die direkten Leute um mich herum. Theoretisch ließe sich der Ort austauschen. Dass ich das glaube, spricht auch dafür, dass ich mich damit aus vielerlei Gründen nicht auseinandersetzen musste. Anders geht es hier Freddie, die als kleines Kind von ihren Eltern zur Adoption freigegeben wurde, dabei von Südkorea nach Frankreich zog und sich jetzt, 25 Jahre später und als Französin, angeblich zufällig wieder in ihrem Geburtsland befindet.
Freddie wollte nie koreanisch lernen, sie amüsiert sich über die ihr lächerlich erscheinenden Tischsitten und clasht ganz bewusst mit ihrer offenen, direkten und betont aneckenden Art. Immer wenn der Film ihr dabei helfen möchte, sich mit ihrer Vergangenheit zu beschäftigen, stößt sie diese ab. Aber was hat ihr diese Vergangenheit auch gegeben? Ein biologischer Vater, dessen Familie die Schuld umtreibt und sie erdrückt, aber auch nur nach 25 Jahren des Schweigens. Ein „Du siehst nicht aus wie eine Französin“, das sie etliche Male hat hören müssen, aber erstmals aus dem Mund eines Koreaners.
Was ist das für eine beschwerliche Reise, auf der nicht klar ist, wo es losgeht und schon gar nicht, wo man ankommen möchte. Vielleicht aber auch ankommen muss. Freddie tanzt, lacht, hat Sex, verzweifelt, schreit und lebt am Rande einer „Was wäre wenn“-Frage, die vor allem die zweite Hälfte des Films dominiert. Wie der Film damit umgeht ist großartig und zeigt ihren Weg mit den Pausen, die das Leben manchmal fordert. Und den enttäuschenden Antworten, die selbst die größten Fragen manchmal mitbringen.
Wer nimmt dich wie du bist? Wer erwartet von dir eine Gegenleistung dafür? Warum gibt es diesen Moment, an dem man spürt, dass man etwas verpasst hat und die Regeln für dich andere sind? Warum ist der Ort, an dem du dich befindest nur ein Platzhalter für etwas, das niemand (be)greifen kann?
Super Super Super Super. Den Film des Jahres 2023 gibt's also schon.
Startet regulär am 26. Januar im Kino und ich hoffe, ihr schaut ihn euch an. Ich hatte das Glück einer Vorpremiere im Programmkino.
ist notiert. bei uns im werkstattkino. die gammligste klitsche weit und breit aber sehr sympathisch. freu ich mich drauf.
gesehen:
in the heat of the night (norman jewison, 1967)
arte hat die klassiker. endlich durfte ich den auch mal sehen. ganz großes schauspieler-kino: sidney poitier und rod steiger beackern sich als snobistischer east-coast-cop (poitier) und südstaaten-provinz-sherrif (steiger) mit dem gemeinsamen ziel, einen mord aufzuklären (oder auch nicht); wie sie sich dabei annähern, gegenseitige wertschätzung aufbauen, um im nächsten moment wieder komplett auf distanz zu gehen und sich gemeinheiten an den kopf werfen, das ist auch story telling par excellence.
short term 12 (destin daniel cretton, 2013)
ein heim für verhaltensauffällige jugendliche - betreut von grace (brie larson) und mason (john gallagher jr.), die ein paar sind und beide selbst ihre päckchen zu tragen haben - das durch die ankunft von jayden (kaitlyn dever) aufgemischt wird, denn grace erkennt sich und ihre probleme in ihr selbst. obwohl der film sehr emotional wird, werden dabei potenzielle kitschfallen dankenswerterweise weitgehend umgangen. trocken erzählt und doch berührend - sowas schätze ich sehr.
woman at war (benedikt erlingsson, 2018)
aktueller geht nicht: halla, ein respektiertes mitglied der reykjaviker gesellschaft. sabotiert ein aluminiumwerk, das klimaschädlich arbeitet und obendrein womöglich von multinationalen konzernen übernommen zu werden droht. und plötzlich wird ihr antrag auf adoption stattgegeben. soll sie also in die ukraine (!) reisen, um ein kleines verwaistes mädchen unter ihre fittiche zu nehmen oder ihren auftrag zuende bringen, ihre landsleute über die skandalösen verstrickungen der politik mit skrupellosen geschäftemachern aufzuklären? der twist ist fantastisch - kann ich nur empfehlen.
gestern war ein High & Low Tag (Wohnungsauflösung der Mutter), und abends gab es zur Entspannung "Bullet Train"
Pitt sieht immer mehr wie Iggy Pop aus, ansonsten ein knallbuntes ultrabrutales Haudrauf in ansehnlicher Kulisse und auch witzigen Dialogen. Gestern war es genau das Richtige für mich.
The Menu (2022) In Brühl gibt es ein winziges Kino, das "Zoom". Weil mich freut, dass es hier ein winziges Kino gibt, wollte ich es von Anfang an gerne mal besuchen - allein, die Filmauswahl ist nicht immer meins. Nun lief The Menu und da hab ich die Chance genutzt. Was soll ich sagen - es ist wirklich winzig, das Zoom, wie so ein Privatkino im Keller eines nur so mittelreichen Menschen, und es mieft ein bisschen und diejenigen Brühler, die am Dienstagabend ins Kino gehen, scheinen das mit dem Stillsitzen und Klappehalten nicht ganz verinnerlicht zu haben. Aber gut, ich hab den Film dennoch halbwegs genießen können.
The Menu ist fies, eskaliert irrsinnig schnell und ist dermaßen over the top, dass ich aus dem Staunen gar nicht mehr rauskam. "Brillant" würd ich den Film nun nicht nennen, aber er ist einfalls- und temporeich, herrlich zynisch, kapitalismuskritisch, gut gespielt. Und wenn er auch sonst nix zeigen sollte, zeigt er in jedem eindringlich, was für ein dreckiges Geschäft die Gastronomie ist. Als Ex-Kellnerin, Ex-Küchenhilfe, Ex-Bardame und Ex-Ungelernteköchin konnte ich einige Taten des Küchenchefs durchaus nachvollziehen ;-)
You all want the whole world to be changed so you will be different.
Zitat von G. Freeman im Beitrag #5218Du solltest dann unbedingt The Bear sehen.
Kurz dachte ich an den französischen Film von '88 und dachte "Wutt?? Einen Film über Bären?" - dann spuckte Google die Serie aus. Sieht gut aus, danke für den Tipp! Mal sehen, ob ich die irgendwann noch woanders als bei Disney+ auftun kann, das hab ich nämlich nicht. (Und ich mag keinen vierten Streaming-Anbieter bezahlen; das wird mir langsam ein bisschen zu zerfasert mit all den Abos.)
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